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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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ich die Kiste. Meine Mutter hatte das Haus all die Jahre behalten, einerseits, weil sie dort wohnen konnte, wenn sie zweimal im Jahr zu Besuch kam, und zum anderen, weil es der einzige Besitz war, den der Staat nicht einfordern konnte, als wir meinen Vater und seine Ersparnisse einer staatlichen Pflegeeinrichtung übereignet hatten. Nach seinem Tod konnte meine Mutter das Haus verkaufen und hatte mich gebeten, das Sortieren, Katalogisieren und Inventarisieren zu übernehmen, das am Ende eines Lebens fällig wird. Ich hatte einen Nachmittag Zeit, meinen Vater auf das zu reduzieren, an das wir uns am liebsten erinnern wollten: die geistreichsten Briefe, die rührendsten Andenken, die schmeichelhaftesten Fotos. Alles andere wurde entsorgt.
    Die Kiste stand im Arbeitszimmer meines Vaters hinter einemStapel alter Postkarten und einem quietschenden Globus. Als ich sie öffnete, fand ich darin ein buntes Durcheinander von vergilbten, abgegriffenen Zeitungsausschnitten, und fast hätte ich den Deckel wieder geschlossen, hätte mich abgewandt und das Rätsel auf sich beruhen lassen.
    Nein, das ist nicht wahr. Ich hätte ihn nicht beinahe geschlossen. Ich gehöre nicht zu der Sorte Mensch, die den Deckel wieder schließt. Ich ließ ihn offen und begann zu stöbern. In der Kiste befanden sich lauter Zeitungsartikel über Alexander Besetow, den Schachmeister.
    Der erste Artikel war von 1980 und stammte aus der Literaturnaja Gaseta . Er handelte von einem frühen Erfolg Alexanders an seiner unaussprechlichen Leningrader Schachakademie. Auf dem Foto ist er herzzerreißend jung und unscheinbar – er hat nie ausgesehen wie jemand, der es weit bringen würde, selbst als er es weiter gebracht hatte als alle anderen – und wirkt ein wenig unglücklich darüber, fotografiert zu werden. Die nächsten Artikel begleiten ihn zu seinen regionalen und überregionalen Erfolgen und zu seinem ersten internationalen Triumph bei einem Turnier in Reykjavík. Auf den frühen Fotos sieht er hager und missmutig aus, mit kantigem Wesen und einem Ausdruck unterschwelliger Verbitterung. Dann kommen die achtziger Jahre. Die Berichterstattung klingt fast schon atemlos; es ist viel von seiner Jugend und von seinem Genie die Rede. Er habe einen subversiven Spielstil, heißt es. Eine individuelle Haltung. Es gibt Reportagen über Streitereien mit der FIDE. Besetow sieht nicht mehr in die Kamera, wenn er fotografiert wird. Er nimmt ein wenig zu und beginnt älter zu wirken. Er liefert sich ein endloses Duell mit Russajew. Das Match wird unterbrochen. Das Match wird fortgesetzt. Die letzte Partie wird gespielt. Das war die Partie, die ich mit meinem Vater angesehen hatte, und Besetows wild entschlossener Gesichtsausdruck versetzte mich in jene Nacht zurück – in den irren Tanz der Schatten an der Wand, die langsam erlöschenden Schneeflocken. Besetow gewinnt. Auf dem Foto, das ihn mit seiner Trophäe zeigt, wirkter klinisch depressiv. Inzwischen sind die Artikel ein wenig zittrig ausgeschnitten, denn in den späten Achtzigern setzten bei meinem Vater die Symptome ein. Bald nach dem Ausbruch der Krankheit hören die Dokumentationsbemühungen ganz auf, wenn auch nicht so bald, wie ich gedacht hätte. Nach 1990 kommt gar nichts mehr – nichts über Besetows Buch, über seine viel betrauerte Niederlage gegen einen IBM-Computer und seinen Einstieg in die Politik nach dem Kalten Krieg. All das hat mein Vater verpasst. Er hat eine Menge verpasst.
    Es war merkwürdig, diese Chronik eines fremden Lebens – nicht ganz das, was man in einer geheimnisvollen Kiste im Arbeitszimmer des verstorbenen Vaters erwarten würde. Aus narzisstischen Gründen hatte ich eher an alte Schulfotos, Auszeichnungen für gute Noten oder selbstgebastelte Weihnachtsgeschenke gedacht, während die Verschwörungstheoretikerin in mir auf Liebesbriefe, rätselhafte Schlüssel oder politische Korrespondenz gehofft hatte. Stattdessen fand ich die gewissenhafte, lückenlose Dokumentation der Karriere eines russischen Schachweltmeisters, eines Mannes, dem mein Vater nie begegnet war und dessen Geschichte er nicht bis zum Ende mitverfolgen sollte. Das kam unerwartet. Doch vollkommen überraschend war es nicht – nicht nur, weil sich mein Vater so sehr für Schach und für die Sowjetunion und für diesen speziellen sowjetischen Schachspieler interessierte. Ich erinnerte mich wieder an die verschneite Winternacht und die atemlose Faszination, mit der mein Vater jede unerwartete Wendung jener fernen

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