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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Höflichkeit war seine große Schwäche, und eines Tages würde er sie ablegen müssen, doch nicht heute, dachte er, nicht sofort. »Danke sehr«, sagte er.
    »Mir ist aufgefallen, dass Sie noch nicht Parteimitglied sind.«
    Alexander rollte sein Glas zwischen den Fingern. Er betrachtete die dicke, verzerrte Reflexion seines Daumens in der Flüssigkeit. »Nein«, sagte er. »Bin ich nicht.«
    »Zweifellos ein Versäumnis, das Ihrer Jugend geschuldet ist.« Peter Pawlowitsch, der immer noch viel zu geräuschvoll rauchte, begleitete seine Feststellung mit einem zufriedenen Schmatzen.
    Alexander schwieg, was neben dem Schach eine seiner größten Stärken war.
    »Sie leben in der Kommunalka, habe ich recht?«
    »Ja.«
    »Ziemlich voll da, nehme ich an. Und immer Ärger mit den Wasserleitungen.«
    Alexander dachte an die Maden im Wasserhahn. »Manchmal.«
    »Sie hätten doch sicher gern eine eigene Wohnung?«
    »Ich habe ein eigenes Zimmer.«
    »Das ist natürlich eine große Errungenschaft«, sagte Peter Pawlowitsch großzügig. »Aber vielleicht ist Ihnen nach ein bisschen mehr Privatsphäre? Mehr Platz, vielleicht? Wie viel haben sie, acht Quadratmeter? Neun?«
    Alexander dachte an sein feuchtkaltes, vollgestopftes Zimmer,an das unregelmäßige Zischen des altertümlichen Heizkörpers. Er dachte an die riesigen Stapel von Schachmagazinen, auf denen er nachts oft versehentlich zu liegen kam.
    »Ein junger Mann wie Sie«, sagte Peter Pawlowitsch, »hat doch sicher schon ein Auge auf eine Dame geworfen. Sicher wollen Sie eine Familie gründen.«
    Alexander schwieg. Wenn der Mann nur wüsste, wie weit er mit diesem Ansatz danebenlag.
    »Oder irre ich mich?«, fragte Peter Pawlowitsch. »Vielleicht ist es nicht eine Dame, sondern mehrere? Auch dann könnte ein wenig mehr Platz nicht schaden. Und Privatsphäre. Eine kleine Datscha in den Wäldern vielleicht. Mit einem hübschen Ausblick und einer Sommerblumenwiese. Wo Sie mit ausgewählten Besuchern Schach spielen könnten. Ferien an der Wolga. Was halten Sie davon?«
    Alexander nahm sich traurig seinen zweiten Wodka vor.
    »Man hat mir gesagt, dass Sie schweigsam sind«, sagte Peter Pawlowitsch. »Aber Sie sind so gut wie stumm. Das werde ich in Ihrer Akte vermerken müssen.«
    »Ich bin ganz zufrieden mit meinem Zimmer.«
    »Das bezweifle ich. Doch selbst wenn, gibt es noch viel mehr, das wir für Sie tun können. Reisen. Visa. Einkäufe in unseren Parteigeschäften. Besseres Fleisch vielleicht? Mögen Sie Essen? Frauen? Irgendwas?«
    Alexander dachte an die senfgelben Konserven mit zähem, faserigem Rindfleisch in den staatlichen Lebensmittelgeschäften, an die schrumpeligen Auberginen mit Schimmel an der Unterseite. Er dachte an die Kommunalka, wo die Luft nach ranzigem Fett roch und nach Füßen in zu vielen Socken. Dann stellte er sich eine Datscha unter schattigen, sommerlichen Bäumen vor, dazu Kaviar, Wein und frisches Gemüse auf einem breiten Holztisch unter sanft wogendem Geäst. Er stellte sich schöne Frauen vor, das genaue Gegenteil von Elisabeta – blond statt dunkelhaarig, unterwürfig statt gleichgültig, und austauschbar, während Elisabeta störrisch ihre Eigenarten bewahrte.
    »Sie verstehen, worauf ich hinauswill. Sie sind ein herausragender Schachspieler, doch Sie können besser werden. Sie können der Stolz der Partei sein und die Partei Ihre Stärke.«
    Alexander betrachtete nachdenklich sein leeres Glas. »Ich denke nicht, dass ich das kann.«
    »Hören Sie«, sagte Peter Pawlowitsch schroff, und Alexander spürte, wie der Mann die Gangart wechselte. »Sie sollten aufhören, mit diesem Iwan Dimitrijewitsch anzubändeln.«
    Alexander stellte viel zu laut sein Glas ab. »Wie bitte?«
    »Noch mal dasselbe!« Peter Pawlowitsch klopfte auf den Tresen, und Alexander leerte noch ein Glas. Seine Augen wurden unangenehm feucht. Schmale Rauten mutlosen Lichts drangen zum Fenster herein. Peter Pawlowitsch erhob sich.
    »Seien Sie vernünftig, Alexander. Lassen Sie sich nicht auf solche Dummheiten ein.«
    Auch Alexander kam wackelig wieder auf die Beine. Er fingerte nach seinem Geldbeutel, doch Peter Pawlowitsch bremste ihn mit seinen weichen Händen.
    »Bitte, Alexander Kimowitsch«, sagte er. »Denken Sie über mein Angebot nach. Aber die Getränke – sehen Sie sie als Zeichen unserer Bewunderung. Das geht auf uns.«
    Zwanzig Minuten später stolperte Alexander über die Türschwelle des Saigon. Der Barmann musterte ihn skeptisch, sagte aber nichts. Wie

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