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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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er labil ist. Dass man nicht auf ihn bauen kann.«
    »Schon gut«, sagte Alexander. »Mir geht es gut, wirklich.« Doch sein Nacken lastete unerträglich schwer zwischen den Schultern,als sei er mit Sand oder Schuld angefüllt. War er arrogant? Er hatte versucht, es nicht zu sein; nach seinen Siegen war immer er derjenige gewesen, der mit ausgestreckter Hand stehen gelassen wurde, während sein Gegner ihm in einer Mischung aus Enttäuschung und Verachtung den Rücken kehrte. Doch wenn er sich vorzustellen versuchte, nach Ocha zurückzugehen – wieder bei seinen Hühnern und seinen Schwestern zu leben und sich an Leningrad zu erinnern wie an einen verblassenden Traum –, stieß ihn der Gedanke ab. Er musste zugeben, dass es ihm gefallen hatte zu siegen. Es hatte ihm gefallen, bescheiden und großmütig sein zu können.
    »Ich dachte, du hast die Akademie nicht gemocht«, sagte Iwan. »Und dass du dich da gelangweilt hast.«
    Alexander presste sein Kinn noch fester auf den Tisch. Über seinem Kopf hörte er tonlos gewisperte Worte und bemerkte ein heftiges Kopfschütteln. Schließlich legte sich eine anonyme Hand auf seine Schulter; so dick und rau, wie sie war, musste es wohl die von Nikolai sein.
    »Hab ich auch nicht«, sagte Alexander. »Ich habe mich wirklich gelangweilt.« Das Holz war noch kälter geworden; von seiner Oberfläche schienen kleine Luftwirbel aufzusteigen, und Alexander spürte, wie er in eine angenehme Leere versank. »Ich weiß nur nicht, was ich jetzt tun soll.«
    Ein erneutes Schweigen – in dem über Alexanders Kopf wieder tonlose Verhandlungen geführt wurden, unterbrochen von einigen Grunzlauten Nikolais – endete damit, dass Iwan sagte: »Dann musst du wohl für uns arbeiten.«
    Alexanders Kopf füllte sich wieder, und er sah, wie sein Leben bedenklich schwankend um seine Achse rotierte und eine neue Richtung nahm. Schweißknospen drangen aus seinen Poren, und er schluckte mühsam gegen die rote Hitze an, die ihm den Rachen hochstieg. Er traute sich nicht aufzublicken.
    »Also wirklich, Nikolai«, sagte Iwan. »Jetzt gib dem Mann endlich einen Wodka.«Iwan und Nikolai gaben, wie sich herausstellte, eine monatlich erscheinende Flugschrift heraus, und sie nahmen Alexander mit, um sie ihm zu zeigen. Iwans Zimmer war winzig, und der Boden war von Wand zu Wand mit übereinandergeschichteten Büchern und Papieren und Abfällen bedeckt. Hier und da bemerkte Alexander den schwachen arktischen Geruch von Schimmelpilzen. In der Mitte des Raums stand eine Schreibmaschine auf einem hohen Bücherstapel. Von einem Poster über dem Fernseher blickte Brigitte Bardot wissend herab. Ihre Körpermitte war von vielen Umzügen ganz zerknittert. Iwan war Hochschuldozent gewesen, bis ihn die Universität wegen antisowjetischer Umtriebe hinausgeworfen hatte. »Dissidenten sind die einzigen Arbeitslosen in der Sowjetunion«, sagte er und goss Alexander ein Glas Kwas ein. Er war erst vor kurzem hier eingezogen, nachdem er fünf Jahre lang auf seine Propiska gewartet hatte, und war sich sicher, dass er noch nicht abgehört wurde. Iwan besaß Unmengen von Büchern, obwohl er nach der Quotenregelung für jeden Turgenjew mindestens fünf politische Abhandlungen kaufen musste. Sie standen in großen bunten Stapeln wie Möbelstücke im Raum verteilt. Dazwischen schlich eine einäugige dreifarbige Katze herum, die sich sogleich schnurrend und nasereibend auf die Ankömmlinge stürzte.
    »Das ist Natascha«, sagte Iwan und kraulte das Tier mit einem Zeh. »Meine einzige wahre Freundin.« Er stellte einen Teller Schaschlik auf einem Stapel alter Ausgaben der Sowetskaja Kultura ab und zwinkerte der Katze zu. Nikolai hockte sich auf den Boden und machte sich an dem Schaschlik zu schaffen, und Alexander tat es ihm nach. Es war merkwürdig, Nikolai und Iwan außerhalb des Cafés zu sehen, wie sie bei Tageslicht auf dem Boden hockten und schmatzend ihr Schaschlik kauten, wo er sie sonst nur aus dem dämmrigen Café unter ihrer Dunstglocke aus Zigarettenrauch und gefährlichem Gedankengut kannte. Über ihren Köpfen thronte die Schreibmaschine, als sei sie das Gerüst, das den ganzen Raum zusammenhielt.
    »Tippt ihr die Zeitung auf der Schreibmaschine?«, fragte Alexander.
    »Genau«, sagte Iwan.
    »Hast du sie aus der Universität gestohlen?«
    »Ich habe einen Zollbeamten bestochen. Die Maschinen an der Uni sind alle registriert.«
    Alexander nahm noch einen Bissen von dem Fleisch, das so salzig schmeckte wie Blut, und sah

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