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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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immer war das Café bis unter die Dachbalken mit Rauch und konspirativen Gesprächen angefüllt. Der Rollstuhlfahrer hatte sich diesmal nahe der Tür postiert, und die Besucher wichen ihm und seinen finsteren Bemerkungen so gut wie möglich aus. Als Alexander sich ihm näherte, bemerkte er, dass hier und da Brotkrümel im Haar des Alten hingen. Ihn schickte niemand weg. Die Welt war ungerecht.
    Als er Alexander kommen sah, erbleichte der Mann vor Aufregung, beugte sich vor und öffnete seinen schwarzen, klaffenden Mund. »Leonid Iljitsch ist hier, o Gott, er ist hier!«, kreischte er, dass Alexander vor Schreck zurückprallte. Er hatte ein Flüsternerwartet, irgendeine irrsinnige Geheimbotschaft, und die Stimme des Mannes war unerwartet schrill. Sie stülpte Alexander den Magen um wie eine Urangst, die aufsteigt, wenn etwas vielbeinig krabbelt oder jemand sich von hinten anschleicht.
    »Was?«, fragte Alexander. Er versuchte sich an dem Mann vorbeizudrücken, der vergeblich nach seinen Händen grabschte. Einen Augenblick lang fragte Alexander sich, ob der Mann blind war.
    »Breschnew. Er ist da.« Der Mann gestikulierte in Richtung der Nische, in der Iwan und Nikolai Rauchgirlanden aufsteigen ließen. »Er ist hier, ganz sicher. Er ist überall!«
    Alexander wich den tastenden Händen des Alten aus, den dürren Fingern, die flatterten, als wollten sie Orgel spielen, und zog sich angewidert zurück. Nikolai und Iwan saßen an demselben Tisch wie immer, zwischen sich einen gewaltigen Stapel Zeitungen. Das Deckenlicht fing sich in ihren Wodkagläsern und tröpfelte auf die Tischplatte. Nikolai kritzelte in ein Notizbuch und lachte, was sein vernarbtes Gesicht in bizarre Falten legte. Er trug eine neue Lederjacke. Alexander fragte sich, ob er ihn je zuvor hatte lachen sehen. Er setzte sich zu den beiden an den Tisch.
    »Dieser Mann«, sagte Nikolai und zeigte auf den Rollstuhlfahrer, der noch immer sein unsichtbares Publikum anschrie, »ist eindeutig verrückt.«
    »Oder er ist ein Prophet«, schlug Iwan vor. »Ein Erbe Rasputins. Was sagst du, Alexander? Glaubt ihr im Osten an so was?«
    »Also bitte«, sagte Nikolai. »Ein bisschen mehr Respekt. Der Junge ist jetzt wichtig, weiß du.« Er drückte seine Iskra aus, die sich wie ein Bakterium an die anderen in dem vollen Ascher lehnte.
    »In unserer großen Sowjetunion«, sagte Iwan, »ist kein Mensch wichtiger als der andere. Also, was gibt es Neues, Alexander? Bist du nicht berühmt geworden? Solltest du nicht mit den Funktionären Brüderschaft trinken? Oder die nächstbesseren Nutten ausprobieren?«
    »Also gut«, sagte Alexander. Scheiß auf Andronow. Scheiß auf alle anderen. »Dann gehe ich.«
    »Warte, bleib«, beschwichtigte Nikolai. »Iwan, du solltest wirklich ein bisschen netter sein.«
    »Du wirst also eine ganz große Nummer, ja?«, fragte Iwan gleichmütig und begann in dem Zeitungsstapel herumzublättern. »Wir haben gerade von dir gelesen. Oder, Nikolai? In der Literaturnaja Gaseta , nicht? Kann das sein, Alexander?«
    »Ich weiß es nicht.« Er hatte gar nicht vorgehabt, so erbärmlich zu klingen, wie er sich fühlte. Im nächsten Moment ließ er den Kopf auf die Tischplatte sinken und kühlte sich an dem massiven Holz die Stirn. Er stellte sich den Baum vor, aus dem der Tisch gemacht war – in einem Wald am Schwarzen Meer vielleicht, wo das Salz ihm die Wurzeln zersetzte und das hellgrüne Laub im Wind unaufhörlich zitterte. Oder er kam aus dem Norden. Vielleicht war es ein kleiner, von den schneidenden Steppenwinden verkrüppelter Baum gewesen, der bucklig und schief den Elementen trotzte. Alexander schielte zur Seite und sah die Flaschen über der Bar wie eine Kette wässriger Edelsteine.
    »Bist du betrunken?«, fragte Nikolai. Er wandte sich an Iwan. »Ist er betrunken?«
    »Das wäre ja ganz was Neues. Bestimmt hat er nur den Verstand verloren. Alexander, hast du vielleicht den Verstand verloren?« Aus Iwans Stimme war eine Art verunglückte Zärtlichkeit herauszuhören, wie die eines ungeübten Vaters, der sein krankes Kind zu trösten versucht. Alexander hörte Nikolai gespannt mit den Kiefern mahlen.
    »Ich bin aus der Akademie geworfen worden«, flüsterte Alexander der Holzplatte zu. Er beschloss, seinen Kopf so lange wie nur möglich auf dem Tisch liegenzulassen. Vielleicht, stellte er mit Entsetzen fest, weinte er sogar.
    »Ich hab’s ja gesagt«, sagte Nikolai. Er senkte die Stimme zu einem heiseren Bariton. »Ich habe dir gesagt, dass

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