Das Leben ist groß
sich um. In den Ecken hatten sich faustgroße Staubballen angesammelt, und Alexanders Trinkglas hatte einen Milchrand.
»Und macht ihr die gesamte Zeitung hier?«, fragte Alexander.
»So ist es gedacht«, sagte Iwan. »Ein paar Freunde reichen ihre Beiträge bei uns ein. Lyrik, Prosa oder Meldungen über Verhaftungen. Diese Meldungen sind das Wichtigste. Nichts gegen die Schriftsteller natürlich. Wir vervielfältigen das Ganze mit Kohlepapier. Mehr als acht auf einmal geht nicht, sonst werden sie unleserlich. Davon machen wir mehrere Durchläufe, bis ich mit dem Farbband oder den Nerven am Ende bin. Jeder Leser soll weitere Kopien machen und verteilen. Bei jeder Ausgabe gehen uns ein paar Leute verloren, aber unsere Auflage ist insgesamt nicht schlecht.«
»Wie oft macht ihr das?«
»Alle drei Wochen ungefähr.«
Alexander sah zu Nikolai hinüber, der meditativ an seinem Schaschlik kaute und aus dem Fenster starrte. Er hörte nicht zu, oder zumindest tat er so. Er trug noch immer seine Lederjacke, und Alexander wunderte sich darüber. Sie war gut geschnitten, als käme sie aus dem Ausland – aus Italien vielleicht –, aber das konnte nicht sein.
»Kann ich sie mal sehen?«, fragte Alexander.
Sofort öffnete Iwan eine seiner Schubladen. Er hatte offensichtlich nur auf diese Bitte gewartet. »Natürlich«, sagte er und zog die Flugschrift hervor. »Hier.« Iwan beugte sich zu Alexander vor. Sein Atem roch säuerlich. Er errötete, als er Alexander das Pamphlet überreichte. Es war ungewohnt, dass Iwan so offensichtlich etwas von ihm wollte, und noch ungewohnter, dass dieses Etwas Alexanders Anerkennung war.
Die Titelseite des Blattes wirkte mit ihrer kleinen schwarzen Schrift eher langweilig. Es war keine Zeitschrift, die man aus Neugier aufgeblättert hätte, weil ihr Äußeres interessante Inhalte versprochen hätte. Eher wirkte es, als seien im Inneren metaphysische Traktate oder ein Abriss über die jüngsten Erfolge in der Agrartechnologie zu erwarten. Alexander blätterte trotzdem weiter. Der erste Text war eine anonyme Einleitung, die von Iwan stammen musste. (»Freunde«, stand da, »wir versammeln uns hier auf diesen Seiten, um wieder einmal eine Bestandsaufnahme unserer Situation und unserer selbst zu machen …«) Dann folgte ein blumiges Gedicht, das Alexander nach dem dritten Lesen immer noch nicht verstand, außer dass viel von »Kapitulation« die Rede war. In einem Essay wurde eine moderne Lesart von Bulgakow vorgeschlagen. Und dann gab es eine Aufzählung von Festnahmen, Verhaftungen, Hausdurchsuchungen in und um Leningrad im vergangenen Monat. Diese Liste war der längste Beitrag – Seite um Seite voller Namen und Daten und Maßnahmen, unkommentiert. Überschrieben war sie mit »Eine kleine Auswahl aussichtsloser Fälle«, was auch der Titel der Flugschrift war.
»Die Liste ist unvollständig«, sagte Iwan. »Wir versuchen nicht mal, sie vollständig zu bekommen. Es ist nur eine Auswahl, an der man die ungefähre Tendenz des Monats erkennen kann – wonach sie am meisten gesucht und was sie gefunden haben.«
Alexander überflog die Liste. Es gab Verhaftungen wegen Missbrauchs von Staatseigentum (Iwans illegal erworbene Schreibmaschine kam ihm in den Sinn), eine Festnahme wegen »Verbreitung von Falschinformationen« (er vermutete, dass auch der Eintrag, der diese Festnahme bekanntgab, offiziell als Falschinformation galt), eine Verhaftung aufgrund »sozialen Parasitentums« (damit war Arbeitslosigkeit gemeint, die Alexander neuerdings ebenfalls anzulasten war), und dann und wann hatte es Hausdurchsuchungen wegen Verdachts auf verschwörerische Umtriebe gegeben (Alexander musterte Iwan, wie er mit hervortretenden Halssehnen mühsam schluckte, und Nikolai, wie er überall hinsah außer zuihm, und fragte sich, wie weit er ihnen vertraute). Er ließ die Zeitung sinken und beugte sich zu Iwan herüber. »Ich bin heute von einem Funktionär angesprochen worden«, sagte er. »Sie haben mir eine Datscha angeboten.«
Iwan nickte. »Sie wollen, dass du Mitglied wirst.«
»Ja.«
»Es gibt eine Akte über dich.«
»Natürlich.«
»Und du hast nein gesagt?«
»Natürlich habe ich das.«
»Dein Zimmer muss wirklich toll sein.«
»Er hat gesagt, ich sollte mich nicht mehr mit euch abgeben.«
»Ein kluger Rat.«
»Dann wissen sie, was ihr tut?«
»Es ist kein Geheimnis. Geheimnisse gibt es nicht. Vielleicht ist geheim, wer wir genau sind und was wir wollen. Und wer unsere Beiträger und Leser
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