Das Leben ist groß
russischen Nation.
»Merkwürdig«, sagte Alexander.
»Er ist tot.«
»Was?«
»Breschnew ist tot.«
»Hat er das gerade gesagt?« Alexander fragte sich, ob ihm etwas entgangen war, und lauschte wieder.
»Nein«, sagte Iwan. »Aber sieh dir an, wie er gekleidet ist. Sieh dir sein Gesicht an. Warum sollten sie wohl eine Komödie für diesen pseudohistorischen Blödsinn unterbrechen?«
Jetzt fiel auch Alexander auf, dass der Sprecher leicht panisch wirkte. Irgendein geheimes Wissen verdüsterte von Zeit zu Zeit seinen Gesichtsausdruck, ehe er es wieder verdrängte.
»Er ist tot, jede Wette«, sagte Iwan. Er stand auf und lief mit hinter dem Rücken verschränkten Händen kopfschüttelnd auf und ab wie ein gereiztes Pferd. »Also.« Er blieb stehen, fluchte triumphierend und nahm die Wanderung wieder auf. »Also dann. Das wird ja interessant.«
»Sollen wir es veröffentlichen? Noch bevor es bekanntgegeben wird?«
»Wir bereiten uns jedenfalls vor. Es wird ja nicht ewig ungesagt bleiben. Eine Woche maximal. Aber sie wollen bestimmt in Ruhe die Nachfolge auskungeln.«
Alexander nickte und sah wieder zum Fenster hinaus. Der Schnee fiel jetzt in dichteren Schüben, kristallinen Wirbeln, die sich immer enger und enger um sich selbst drehten, bis ihm vom Zusehen schwindelig wurde. Er fragte sich, was als Nächstes kommen würde.
»Das Begräbnis wird eine Riesensache«, sagte Iwan. »Dafür werden sie schon sorgen. Es wird das größte Ding seit langem. Und es wird bestimmt sehr streng überwacht.«
»Und was sollen wir dann tun?«
Iwan sah beinahe träumerisch aus. Seine Augen wurden im schummrigen Licht bleigrau; ihr Ausdruck war sibyllinisch, als sähen sie durch Alexander hindurch in eine ferne, bedrohliche Zukunft.
»Sascha«, sagte er, »wir tapezieren die ganze Stadt.«
Auf dem Nachhauseweg vollführte Alexander einen kleinen Freudentanz. Wenn die Nachricht erst einmal offiziell war, verbat es sich von selbst zu feiern. Doch jetzt, vor der Bekanntgabe, konnte er unbesorgt durch den Schnee tanzen, konnte jubeln, gröhlen und große Hände voll Schnee hochwerfen und glitzernd auf sich herabregnen lassen, bis ihn fröstelte. Er wusste sehr wohl, dass es eigentlich nichts zu feiern gab. Nach Breschnew würde es einen neuen Breschnew geben, und danach noch einen. Doch jetzt, in diesem Moment, gab es keinen Breschnew, und Alexander war einer der wenigen, die davon wussten. Er hüpfte und schlitterte und stampfte gedämpfte Stiefelabdrücke in den Schnee. Die Sterne waren im Winter viel klarer zu sehen. Die früh hereinbrechende, tiefe Dunkelheit brachte die über den Himmel verstreuten Lichtkleckse zum Strahlen.
Alexander dachte darüber nach, was Iwan über den Verlust gesagt hatte – wie er einen an einen Ort binden, einen heimisch machen konnte. Er fragte sich, was Iwans eigene Verluste waren. Er hatte vorgehabt, ihn zu fragen, doch dann war die Sondersendung dazwischengekommen.
Er drückte seine bloßen Hände in den Schnee, bis ihm die Arme schmerzten. Er warf die Beine hoch und vollführte wüste Trittfolgen in der Luft. Die Fahrer der weißen Wolgas – wenn überhaupt welche vorüberfuhren – registrierten ohne besonderes Interesse einen sehr betrunkenen Mann auf dem Nachhauseweg.
Ein paar Tage darauf klopfte es bei Alexander an der Tür. Es war mitten in der Nacht, und einen schlaftrunkenen Augenblick lang fragte er sich, ob es Elisabeta war, ehe ihm klarwurde, dass sie garnicht mehr hier wohnte und dass sie ohnehin nie so klopfen würde, mit fleischigen, fordernden Knöcheln, die über das Türblatt kratzten. Dann fragte er sich, ob ihm gekündigt worden war. Vielleicht hatte die Verwalterin von seinen Aktivitäten für die Flugschrift gehört und beschlossen, dass das Risiko nicht tragbar war, schließlich lebten Kinder im Gebäude, wusste er das denn nicht? Jetzt war sie hier, um ihn nachts aus dem Haus zu schleusen und ihm zu einem Vorsprung zu verhelfen, falls schon jemand hinter ihm her war. Und gleich würde sie ihm seine Sachen hinterherwerfen, dass die Koffer und Socken im Schnee ein chaotisches Schachbrett ergaben.
Doch das Klopfen wurde immer lauter und dringlicher, und er begriff: Er war erledigt. Es war der KGB. Sie wollten ihn töten, ihn bestechen, ihm den Willen brechen, und keines dieser Vorhaben wäre besonders schwierig durchzuführen.
Doch es war nicht der KGB. Es war Nikolai, der wie ein Tier im dunklen Flur kauerte.
»Lass mich rein«, keuchte er. »Scheiße noch mal,
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