Das Leben ist groß
mach auf.«
Alexander öffnete, und Nikolai stolperte herein. Er zitterte am ganzen Körper, was sonst gar nicht seine Art war. Alexander trat zurück, und Nikolai taumelte zum Bett, ließ sich darauffallen – wobei er Alexanders Decke zerknüllte und überall schmutzige Schneeklumpen hinterließ – und blieb erst einmal eine Weile heftig atmend dort sitzen. Alexander fiel auf, wie ungern er wissen wollte, was passiert war.
»Tja«, sagte Nikolai. »Besser, ich sage dir gleich, dass Iwan Dimitrijewitsch tot ist.«
»Was?« Alexander konnte seine eigene Stimme nicht hören. »Was?«
»Er ist vom Bus überfahren worden.«
Nikolai atmete viel zu laut, mit verzweifelten Japsern, wie nach einem schlimmen Fall von Sauerstoffmangel – als hätte ihn jemand viel zu lange in die Newa getaucht oder als sei er ohne Helm aus seinem Raumschiff geworfen worden und hätte an die Fenster geklopft und an der Luke gerüttelt und sei weiß geworden, weil seineLungen kollabierten, seine Ohren dröhnten, weil sein Körper verstand. »Also wirklich«, sagte er. »Kannst du mir nicht wenigstens was zu Trinken geben?«
»Was sagst du da? Ein Bus? Wovon redest du überhaupt?«
»Ein Bus eben. Ein großes öffentliches Verkehrsmittel. Schon mal gehört? Mischa ist im Krankenhaus.«
»Dann sind sie beide überfahren worden? Vom selben Bus?«
»Sie waren betrunken. Es war spät. Du weißt, wie viel sie trinken.«
»War das jetzt gerade?«
»Natürlich jetzt gerade!« Nikolais Atmung klang hysterischer, als man bei seinem Gewicht erwartet hätte. »Würde ich sonst mitten in der Nacht hier vorbeischneien? Ich brauche doch sonst keinen Gutenachtkuss von dir, oder? Natürlich ist es jetzt gerade passiert.«
»Ein Bus? Mitten in der Nacht?«
Nikolai starrte ihn an. »Es war ein Nachtbus.«
»Und was ist mit dem Fahrer?«
»Wieso?«
»Ist er verhaftet worden? Wo ist er jetzt? Wie hat er es geschafft, mit einem verdammten Bus zwei Leute umzulegen?«
Nikolai blinzelte. »Es war spät. Die beiden waren sturzbesoffen. Da gab es keine großen Diskussionen.«
Er schwieg kurz, dann bat er so flehentlich um einen Schluck Wasser, dass Alexander wie von selbst eine seiner saubereren Tassen nahm, in die Küche lief und sie mit dem Wasser füllte, das immer ein wenig metallisch nach Blut und Sardinen schmeckte. Er brachte es Nikolai und setzte sich neben ihm aufs Bett, auf die Matratze, die nach so langer Zeit an der Nachtluft bestimmt nicht wieder warm werden würde. Dann begann Nikolai zu erzählen.
Sie kamen gerade aus dem Saigon, als es passierte, sagte Nikolai. Mischa wurde sieben Meter weit in einen abgestorbenen Busch geschleudert, der unter ihm splitterte und ihm mit seinen gefrorenen, gebrochenen Ästen das Gesicht aufriss. Iwan war fast soforttot. Die Vorderreifen hatten ihm die Beine und mehrere Organe zerfetzt. Alexanders Vorstellungskraft kam nicht über dieses »fast« hinweg. Ein unerträgliches Wort. Seine eigenen Organe rebellierten, kollabierten und zuckten zurück, wenn er daran dachte.
Mischa würde überleben. Mischa war nicht totzukriegen, sagte Nikolai und stieß ein Lachen aus, das mehr wie Husten klang. Alexander lachte nicht. Er starrte auf einen Teefleck auf dem Boden. Irgendein entlegener Teil seines Verstandes fragte sich, wie er dort hingekommen war. War er von Anfang an dort gewesen? Hatte Elisabeta ihn bemerkt? Hatte er ihn in einer der letzten Nächte selbst produziert, als er betrunken und halbblind von einem Besuch bei Iwan zurückgekehrt war, zu einsam, um sich noch darum zu scheren, was alles zu Boden fiel? Nikolai verschwamm in seinem Augenwinkel. Er sackte in sich zusammen. Er atmete flacher und langsamer. Vielleicht, dachte Alexander, war er kurz davor einzuschlafen.
Alexander konnte es beinahe vor sich sehen. Wie die beiden auf die Straße hinaustraten, wie der graue Schneematsch ihnen in die Hosenbeine kroch, wie der Bus, eine verschwommene gelbe Masse, aus dem Nichts auf sie zugeprescht war. Es war einfach zu grauenhaft, auf einer vielbefahrenen matschigen Straße zu sterben. Iwan hätte Besseres verdient, weite Felder sauberen, weißen Schnees, mit Rillen und Dünen wie ein ausgetrockneter Salzsee. Er hätte Besseres verdient, als in einer Gasse in den Abgasen alter Autos zu sterben, zwischen Marktständen, die tagsüber blutige Fische und faulige Kartoffeln verkauften. Doch genau so, sagte Nikolai, war es gewesen, und Alexanders Vorstellungskraft war noch nie so eine Last gewesen wie in jener
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