Das Leben ist groß
festgebunden«, sagte Alexander. Er hörte auf, das Laken zu richten, und ließ eine Ecke lose liegen. Er wünschte sich, dass Mischa nachts dorthin rollen und die kalte Matratze fühlen würde.
»Aber Iwan hat dir vertraut«, sagte Mischa. »Also komm her.«
»Wohin?«
»Komm dichter ran.«
»Nur, wenn es sein muss.« Mischa roch nach Formaldehyd und Zitronenreiniger.
Als Mischa die Augen wieder öffnete, sah Alexander die Schlängellinien der Kapillaren auf seinen Augäpfeln. Er sah das leichte Pochen seines Pulsschlags am Handgelenk. »Alexander«, sagte Mischa beinahe unhörbar. »Es war Nikolai.«
»Was?«, fragte Alexander, doch in seinem Hinterkopf hatte sich bereits etwas ratternd in Bewegung gesetzt. Es war ein Gefühl, das er vom Schach her kannte – wenn er wusste, was er als Nächstes tun würde, ohne noch zu verstehen, warum.
»Er war hinter uns. Er hat das Signal gegeben.« Mischas Stimme war beinahe ein Nichts, wie das Geräusch eines Schädels, der im Schnee versinkt.
»Wie denn? Was für ein Signal?« Alexander bewegte kaum die Lippen.
Mischas Augen sahen aus wie schief im Kopf befestigte Klumpen feuchten, blinden Vulkangesteins. Er hielt sie fest auf Alexander gerichtet. Dann ruckte er mit dem Kopf.
»So«, sagte Mischa. »So hat er gemacht.«
»Aber wenn du es gesehen hast«, sagte Alexander so ruhig wie möglich, »warum hast du dann nicht geschrien?«
»Ich wusste ja erst danach, dass es ein Signal gewesen war. Er hat mit dem Kopf geruckt. Ich habe es gesehen.«
»Okay«, sagte Alexander. »Okay.« Er blinzelte. Er sah Iwan und Nikolai über den Litauer streiten. Er blinzelte und sah Nikolais Lederjacke. Er blinzelte und sah Nikolai gestern Nacht, keuchend, mit blutigen Socken. Er blinzelte und sah Nikolai Notizen machen.
»Und was soll ich jetzt tun?«, flüsterte Alexander.
Mischa starrte ihn verächtlich an. »Das musst du mich nicht fragen. Ich schätze, für eure kleinen Ratgeberheftchen war es das wohl. Du hast jetzt ganz andere Probleme, Towarischtsch. Du solltest wohl besser den Ball flach halten.«
»Und du, was machst du?«
»Ich?«, schnaubte Mischa. »Ich müsste eigentlich tot sein, wie man sieht. Vielleicht sollte ich den Kreml in die Luft jagen. Oder ich könnte Breschnew kaltstellen. Hört ihr?« Er schrie jetzt. »Ich werde Breschnew die Lampe ausknipsen! Das wird ein Riesenspaß! Sie werden mich kriegen, aber erst, wenn ich Lenins Leiche geschändet habe! Scheiß auf euch! Scheiß auf euch alle! Hört ihr mich?« Alexander lauschte und hörte das Rascheln und Murmeln einer ganzen Phalanx von Schwestern, die mit Betäubungsmitteln bewaffnet den Flur entlangmarschierten.
»Wenn du so weitermachst, landest du in der Matrosskaja Tischina«, sagte Alexander, »weißt du das nicht?«
»Mach dir keinen Kopf«, sagte Mischa. »Aber versuch, weniger idiotisch zu sein. Denk immer an Nikolai.« Dann brüllte er wieder, warf sich hin und her, kippte eine Wasserflasche um und stieß obszöne Flüche aus. Die herablassende rothaarige Schwester von der Rezeption kam herein und verpasste ihm eine Injektion in den Nacken. Mischas Augen blieben auf der Stelle stehen, und seine welken Hände sanken auf das Laken zurück.
»Vielleicht haben die Medikamente ihm zugesetzt«, sagte Alexander.
Die Schwester verzog den Mund und sah Alexander ein klein wenig länger in die Augen, als er es gewohnt war.
»Ja«, sagte sie. »Vielleicht.«Als Erstes brach Alexander in Iwans Wohnung ein. Das war nicht weiter schwer: Er schob seinen Ausweis zwischen Schloss und Rahmen, und die Tür sprang auf. Die Katze lauerte zitternd und sprungbereit auf den ungebetenen Besucher und stürzte sich mit mörderischer Wut auf seine Beine. Er hatte nicht daran gedacht, ihr irgendetwas mitzubringen, also fischte er ein paar fusselige Brotkrumen aus der Hosentasche und hoffte, dass es ihr nicht auffiel. Er zog an der Schnur für das Deckenlicht.
Die Wohnung war noch nie ordentlich gewesen, doch jetzt lag alles in Trümmern. Die Matratze war umgedreht worden. Aus den aufgerissenen Schubladen der Kommode quollen Anziehsachen hervor. Der Boden war dick mit Papieren bedeckt, die sich an Alexanders Knöcheln verfingen, als er den Raum durchquerte. Das Poster von Brigitte Bardot fehlte.
Okay, dachte Alexander. Verstehe.
Er entdeckte Notizen für die nächste Ausgabe und zog sie zwischen Staubmäusen, Münzgeld und einer undefinierbaren klebrigen Substanz unter dem Sofa hervor. Die alte Leica lag ausgeweidet,
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