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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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sie war in ihrer Absolutheit, ihrer Beispiellosigkeit wie ein Schlag ins Gesicht. Es war eine astronomische, unirdische Kälte, eine furchteinflößende Kälte, die mich krümmte und unterwarf und mich leise vor mich hin fluchen machte. Aber sie hatte auch ihr Gutes. Es erweiterte meinen Horizont, festzustellen, dass es jenseits des gefühlten Nullpunkts weiterging. Dass es Realitäten gab, die außerhalb des Vorstellbaren lagen.
    Die Newa verkrustete und verstummte. Dem Mond wuchsen im Nachtfrost drei Lichtkreise. Die Kommunikationsversuche Claires und meiner Mutter ließen nach und tröpfelten nur noch, wie die unstillbare Blutung nach einer Amputation. Sie gaben sie nie ganz auf – in meiner Mailbox fand ich, wenn ich mir die Mühe gab, im Internetcafé nachzusehen, immer flehentliche Briefe, Schimpftiraden oder Versuche, ganz normal zu klingen, als könnte mich vorgespiegelte Beiläufigkeit dazu verleiten, zurückzuschreiben –, doch ich antwortete ihnen nicht. Es war grausam. Ich wusste, dass ich sie quälte, doch ich hatte einfach nicht die Kraft, es nicht zu tun.
    Mit der Zeit wurde ich immer passiver und unbeweglicher. Die Kälte hatte mich fest im Griff; ich spürte eine Erschöpfung bis ins Mark, eine beginnende Gebrechlichkeit. Ich war dankbar, dass sich mir die Chance geboten hatte, dem Rest der Welt abhandenzukommen. Und ich begann mich zu fragen, ob ich auch mir selbst abhandengekommen war.
    Ich fing an, Jonathan Briefe zu schreiben – langatmige, wirre Briefe, die ich ohnehin nie abschicken würde. Ich schrieb von unseren Anfängen, davon, wie die Tage nach unseren Begegnungen immer wie Heroinentzug gewesen waren, über das zittrige, ausgelaugte Gefühl, wenn sämtliches Serotonin im Körper auf einenSchlag verausgabt worden war. Ich schrieb, dass er in meinem Leben eine singuläre Erscheinung gewesen war. Ich schrieb, wenn er mir irgendetwas glauben sollte, dann das. Ich schrieb, er sei das allerunwahrscheinlichste Plotelement in meiner ohnehin wenig plausiblen Biographie. Ich schrieb, dass wir uns selbst kaum kannten; wie sollten wir dann einander je verstehen? Ich verbreitete mich über Biologie, über Paarbindung und Pheromone. Ich schrieb von Rilkes Konzept der Liebe als Grenze zweier großer Einsamkeiten. Ich erörterte das Subjekt-Objekt-Problem. Ich schrieb über den Mythos der romantischen Liebe, die mittelalterliche Verblendung, an der wir, sowohl als Nation als auch kulturell, noch immer festhielten. Ich schrieb über Scheidungsraten. Ich schrieb über die metastasierende Trauer meiner verwitweten Mutter. Ich schrieb über meine eigene zellulare, atavistische, viszerale Angst. Ich schrieb von Selbstmord und wie viele Huntington-Patienten Selbstmord begehen – meist dann, wenn ihre Motorik geschädigt ist und ihr Verstand noch nicht. Sie schleppen sich in ihr Auto, um sich mit Kohlenmonoxid zu vergiften; sie schießen sich in den Kopf, wenn ihr Zustand es erlaubt. Ihre Hände zittern, ihre Arme zucken. Manchmal brauchen sie Hilfe bei diesem letzten Akt der Unabhängigkeit. Ich schrieb, dass ich für eine tödliche Krankheit einfach nicht geschaffen war. Ich schrieb, ich hätte ihn sofort erkannt, als wir uns zum ersten Mal sahen, das sei keine nachträgliche Verklärung, ich hätte es sofort gewusst. Ich schrieb, dass das nicht möglich war. Ich schrieb, er sei der schönste Mensch, der mir je begegnet sei. Ich schrieb, das läge an evolutionär verkabelten Neuronenverbindungen in meinem Gehirn, meinem funktionstüchtigen Gehirn. Ich schrieb, es täte mir leid. Ich schrieb, den freien Willen gäbe es nicht. Ich schrieb, dass ich ihn liebte. Ich schrieb, die Liebe gäbe es nicht.
    Ich durchstreifte die Stadt – durchquerte die gewaltige Leere des Palastplatzes, schlenderte an dem weidengrünen Winterpalast entlang und weiter, bis die Kuppel der Isaakskathedrale vor mir ausdem Nebel ragte. Ich besuchte die Bluterlöserkirche mit ihren bezaubernd schizophrenen Zwiebelkuppeln. Ich folgte den Kanälen und zählte die pastellfarbenen Häuser. Die Kasaner Kathedrale schimmerte wie Manganerz im späten Novemberlicht. Ich sah halbwüchsige Mädchen Hand in Hand mit ihren Müttern durch die Straßen spazieren. Ich sah einen Passanten, wie er sich herabbeugte und tatsächlich der Bettlerin in der Metrostation etwas Kleingeld gab.
    Ich stellte Recherchen zu Besetow an. Wie es aussah, diente sein Parteibündnis, Alternatives Russland, als Dachorganisation mehrerer Untergruppen, unter anderem

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