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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Alexander hin und wieder einen Blick auf das Geschehen erhaschen: die grau-rot gekleideten Soldaten, die Marschkapelle, den goldgeränderten, schwarzen Sarg, der aus der Entfernung aussah wie ein schwankender Ozeandampfer. So viel Prunk und Eleganz wirkte beinahe unterkühlt, als würde der Tote weniger betrauert als öffentlich vorgeführt.
    Alexander spürte, wie die Papierlagen auf seiner Brust die Erschütterungen seines Herzschlags dämpften. Er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte. Iwan hätte nie so etwas Unüberlegtes angestellt– er war immer äußerst diskret vorgegangen, mit akribisch überarbeiteten Listen der ersten Empfänger. Von diesem inneren Zirkel aus verbreitete sich die Flugschrift selbständig weiter; manche Leser vervielfältigten sie zwei, fünf, sieben Mal und gaben sie an ihre engen Freunde weiter. So ließ sich das Risiko ein wenig streuen, hatte er immer gesagt. Doch Risiken einzugehen musste nicht tödlich sein. Und Risiken zu vermeiden konnte einen nicht vor allem bewahren.
    Alexander trat ein wenig zurück, bis die Menschen vor seinen Augen zu einer brodelnden Masse dunkler Wintermäntel wurden, die wie ein einziger Organismus witternd Ausschau hielt. Der Wind frischte auf, klopfte mit eisigen Fingern seine Wirbelsäule ab und zerrte ungehörig an seinen Hosenbeinen. Rost- und sandfarbene Blätter fegten vorüber, gefolgt von Programmheften mit Fotos von Breschnew, auf denen er unter zusammengewachsenen Brauen streng den Betrachter fixiert. Zarte, fedrige Schneefahnen materialisierten sich aus dem Nichts und rasten in wilder Flucht die Straße entlang.
    Alexander zog die Flugschriften hervor. Er wartete. Er konnte noch immer das blecherne Stampfen der Musik hören und das Dröhnen im Gleichschritt marschierender Füße auf dem Kopfsteinpflaster. Der Wind packte und schüttelte ihn wie ein rachsüchtiger arktischer Geist, und er fühlte, wie sich sein Griff um die Papiere lockerte. Die Flugschriften stoben in vier Himmelsrichtungen davon, sie wirbelten durch die Luft wie eine Wolkenformation. Es sah schön aus, wie sich der Wind in ihnen fing – als wären es schlanke weiße Vögel, vielleicht, oder zitternde Brautschleier. Er wusste, dass sie bald am Boden landen und verschmutzt, zerrissen, von schweren Stiefeln zertrampelt werden würden. Doch vielleicht gäbe es ein paar Neugierige, die sie aufhoben und lasen.
    Alexander wandte sich zum Gehen. Seine zwei Mäntel blähten sich im Wind, und seine Lungen schmerzten von so viel frischer Luft. Es begann jene Kälte, die für russische Abendstunden so charakteristisch ist, die einschüchternd und bedrohlich wirkt, weil sieso viel schlimmer werden wird. Und dort, in einiger Entfernung an eine Laterne gelehnt, stand Nikolai.
    Einzelne Schneeflocken sammelten sich zu kleinen Wirbeln und Wölkchen. Sie färbten Nikolais Haar weiß, erinnerte sich Alexander später, als wäre er gerade Zeuge einer übermenschlichen Katastrophe. Er starrte Alexander an, da war Alexander beinahe sicher. Er stand da und starrte, bis die Menge sich, von den schrillen Tönen der Nationalhymne getrieben, aufzulösen begann und er im dichter werdenden Schneegestöber und Menschengewimmel verschwand.
    Alexander fand Nikolai nicht wieder. Doch als er erst einmal begonnen hatte, Ausschau zu halten, sah er ihn überall.

KAPITEL 10
    Irina
    St. Petersburg, 2006
    Und dann war der Sommer vorüber, und ich wusste nicht, wo er geblieben war. Es hatte lustlose Spaziergänge durch die Stadt gegeben, respektvolle, schweigsame Besuche der lange verlassenen Wohnstätten großer Dichter, die begierige Lektüre lange aufgeschobener russischer Klassiker. Ich schrieb Bruchstücke sinnloser Gedichte auf die Rückseiten von Servietten. Ich gewöhnte mir an, Tee zu trinken. Ich übte, auf Russisch Aussagen darüber zu treffen, was in der Vergangenheit geschehen war und was in Zukunft geschehen würde, was geschehen könnte und geschehen sollte. Ich lernte deklinieren. Unterdessen verblassten und fielen die Blätter und ließen nackte Äste zurück, die sich schwarz im weißen Schnee verzweigten. Es wurde kalt, so kalt, dass ich verstand, wie wenig ich bisher von Kälte verstanden hatte – im flauen Bostoner Winter, den der Atlantik mildert und der unangenehm schroff ist, abernie so hart, dass man nicht aufrecht gehen, sich umsehen und bewundern könnte, wie die Möwen sich schütteln und die schneebedeckten Bäume die Stadt verschönern.
    Die Kälte jenes russischen Winters –

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