Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
Vom Netzwerk:
Nacht, in der Iwan starb. Er sah ihn vor sich: den Kiefer ausgerenkt, das Gesicht eine zerfließende Maske, in den Augen ein jenseitiger Ausdruck und, zum ersten Mal, seit Alexander ihn kannte, ein Ausdruck der Angst.
    Als Alexander erwachte, war Nikolai nicht mehr da. Er hatte Mischas Zimmernummer im Krankenhaus auf ein Stück Papiergeschrieben, und seine Socken lagen zusammengeknüllt unter dem Bett. Als Alexander sie aufhob, sah er, dass sie blutverkrustet waren. Angewidert ließ er sie fallen. Dann warf er sie aus dem Fenster.
    Auf dem Weg durch Leningrad folgte er der Ligowski südwärts und umging das Stadtzentrum im weiten Abstand vom Saigon. Er wusste, dass es dort nichts mehr zu sehen gab; noch in der Nacht hatten sie die Marktstände wieder geradegerückt, das Blut fortgewischt, den Bus auf einen der Autofriedhöfe außerhalb der Stadt geschleppt. Dennoch kam mit jedem Blinzeln die Vorstellung wieder – das Kreischen rostiger Bremsen vielleicht und der dumpfe, viel zu harte Aufprall eines Körpers im Schnee.
    Es war nicht so, dass er es nicht hätte glauben können. Er glaubte es, wie er glaubte, dass es kein Leben nach dem Tod gab, dass die Erde eines Tages in die Sonne stürzen würde, dass er vielleicht den Rest seines Lebens allein zubringen würde. Es war jene Art Wissen, bei dem einem, wenn man einmal daran glaubt, nichts anders mehr übrigbleibt, als sich auf den Boden zu legen und dort weiterzuglauben.
    Das Krankenhaus war ein plumpes, feuersteingraues Gebäude mit Gittern vor den Fensterscheiben. An der Rezeption saß eine Frau mir blassrotem Haar, deren Haut sich so straff über die Knochen spannte, als hätte ihr Gesicht mehrere Jahre vor dem Schädel zu wachsen aufgehört.
    »Ja?«, sagte sie, ohne aufzublicken.
    »Ich möchte Michail Andrejewitsch besuchen. Er liegt in Zimmer 219.«
    »Wenn Sie wissen, wo er liegt, gehen Sie«, sagte die Frau. »Wozu fragen Sie mich dann?«
    Alexander ging den Flur hinunter. Die Wände und der Boden waren knochenbleich. An einigen der Türknäufe hingen grellbunte Plastikblumen, steifbeinige Plüschtiere oder kleine Fähnchen. Alexander dachte an die Menschen hinter den nicht geschmückten Türen.
    Als er Zimmer 219 betrat, registrierte er erleichtert, dass Mischa schlief. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht ein Mosaik aus unterschiedlich tiefen Wunden. Alexander trat ans Bett und beugte sich vor, um ihn sich genauer anzusehen. Ein besonders tiefer Schnitt verlief knapp unterhalb seines Auges, und es war deutlich zu sehen, wie leicht er es hätte verlieren können. Alexander berührte behutsam Mischas Hand. Die Haut fühlte sich an wie Wachspapier und hatte dieselbe Farbe wie die schmutzigen Krankenhauslaken. Dass er überlebt hatte, war beinahe komisch. Ausgerechnet Mischa, der ohnehin schon mehr tot als lebendig war – halb skelettiert, halb verrückt und fast schon ein Geist.
    »Gute Besserung, Mischa«, sagte Alexander. »Viel Glück.« Er legte Mischa die Hand auf die Stirn.
    Mischa riss die Augen auf. Plötzlich nahmen sie erstaunlich viel Raum ein, wie bei einem nachtaktiven Tier, das es gewohnt war, in die Dunkelheit zu blicken. »Wer sind Sie?«, zischte er.
    Alexander zog rasch seine Hand weg und tat, als wollte er das Laken zurechtzupfen, das sich an den Ecken gelöst hatte. Aus der nackten, fleckigen Matratze lösten sich Schaumstoffflocken. »Ich bin Alexander Kimowitsch«, sagte er. »Ich bin ein Freund von Iwan. War ein Freund von Iwan.«
    »Gehörst du zu Nikolai Sergejewitsch?«
    »Nikolai ist nicht hier.«
    »Nein.« Mischa richtete sich auf und stützte sich auf die Ellbogen. Durch seine Haut war zu sehen, wie sich Elle und Speiche teilten. Sein Brustbein stand vor wie ein drittes, abwärts gerichtetes Schlüsselbein. »Ich will wissen, ob du zu diesem Abschaum gehörst.«
    »Wir kennen uns jedenfalls. Wir haben uns im Saigon getroffen und bei Stalins Hundertjahrfeier.« Mischa blinzelte nur mit seinen riesenhaften, vorwurfsvoll glänzenden Fledermausaugen.
    »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Alexander schließlich.
    »Ich erinnere mich, wer du bist.« Mischa schloss die Augen. Alexander fühlte sich viel wohler in seiner Gegenwart, wenn er dieAugen geschlossen hatte. »Du bist ziemlich unscheinbar. Aber Iwan hat dir vertraut. Das hat er gesagt, als er mich bei meiner Mutter besucht hat. Ich persönlich verstehe nicht, warum. Du kommst mir nicht gerade helle vor.«
    »Ich bin jedenfalls nicht an einem Gitterbett

Weitere Kostenlose Bücher