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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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ihr Innenleben dem Licht preisgegeben, auf dem Wohnzimmertisch. Unter Iwans bestem Hemd fand Alexander ein paar Fotografien – eine Frau, einen kleinen Jungen, ein älteres Ehepaar –, auf denen er jedoch niemanden erkannte. Er dachte wieder an Iwans Worte über die Bedeutung des Verlusts und fragte sich, ob er einen dieser Menschen verloren hatte. Ihm fiel auf, dass Iwan nie von etwas anderem gesprochen hatte als der letzten oder nächsten Ausgabe, der Verkommenheit der Regierung, Alexanders und Nikolais Idiotie, Mischas Leiden oder den Bedürfnissen seiner Katze. Alexander ließ seine Erinnerungen noch einmal Revue passieren, doch da war nichts weiter – keine Kindheit, keine Liebschaften oder persönlichen Katastrophen. Keine Erklärungen für sein einsames Leben. Keine Schlüsselerlebnisse, die ihn dazu getrieben hatten, wieder und wieder sein Leben zu riskieren und ein System in Frage zu stellen, das, realistisch betrachtet, bis ans Ende aller Tage fortbestehen würde. Denn mehr hatten sie letztlich nichtgetan, als Fragen gestellt. Sie waren, wenn es hoch kam, ein Ärgernis gewesen, wie ein Affe, der einen Elefanten reizt, der ihn jederzeit schnappen und unter seinen Füßen zermalmen kann. Für den Elefanten ist nur die Frage, wann. Er muss sich nur überwinden, die Energie aufzubringen.
    Es konnte durchaus sein, dass Mischa recht hatte.
    Sonst gab es in Iwans Wohnung nicht mehr viel zu finden. Der KGB hatte mehr mitgenommen, als sie je würden verwerten können. Selbst schmutzige Socken und alte Kaufbelege schienen verschwunden zu sein. Einiges von dem umherliegenden Kleingeld fehlte. Natürlich fehlten die Schreibmaschine und das Kohlepapier. Die auffälligste Leerstelle hinterließen die unzähligen Bücher.
    Die Katze wimmerte, und Alexander hob sie hoch. Er fühlte das Surren in ihrem Rippenkasten und fragte sich, welcher Mechanismus sie so beharrlich am Laufen hielt.
    »Dann gehörst du jetzt mir, wie?«, sagte Alexander.
    Natascha biss ihm in den Daumen.
    Er lieh sich eine Schreibmaschine von einem der akademischen Abonnenten. Er besorgte neues Kohlepapier. Er tippte vier Tage lang, bis seine Daumen und Ellbogen schmerzten. Alexander war gut darin, stillzusitzen und repetitive Bewegungen auszuführen, das, immerhin, hatte ihn das Schachspiel gelehrt. Im Morgengrauen, als seine letzte Kerze zu einer wächsernen Pfütze zerfloss, heftete er die Seiten zusammen und ließ Natascha mit ein paar getrockneten Pilzen auf dem Fußboden zurück.
    Er fuhr allein mit dem Zug nach Moskau. Alle Abteile waren voll, und er stand im Gang und sah dem Eisenbahner zu, der vor der Abfahrt die Räder auf Materialermüdung abklopfte. Alexander trug zwei Mäntel untereinander, und unter dem unteren Mantel trug er fünfundzwanzig Exemplare der letzten Ausgabe der Kleinen Auswahl aussichtsloser Fälle.
    In der Moskauer Metro wimmelte es von Sicherheitsleuten. Fahrgäste starrten, die Mützen im Schoß, aus den Fenstern in dievorüberdröhnende Dunkelheit. Unter den Kronleuchtern der Metrostationen und den lichtgetränkten Wandnischen trugen alle Passagiere Schwarz.
    Zwei Straßen vom Roten Platz entfernt konnte er die viel zu heiteren, festlichen Blechbläser hören. Er wusste, dass er nicht sehr viel näher herankommen würde. Finster dreinblickende Soldaten in grauen Mänteln mit roten Flaggen über den Schultern und im Takt hochgeworfenen Knien würden überall den Weg versperren. Alles strebte zum Kreml und zu Breschnews Sarg, der düster im Zentrum des Geschehens kauerte. Im Kreml selbst würden sich die Staatsoberhäupter versammeln, arabische Nationalisten in Kefiyas oder traditionell gekleidete afrikanische Diktatoren, sie würden die Köpfe senken und nachdenkliche, traurige Gesichter machen.
    Außerhalb des Rings aus Soldaten standen die Trauergäste: Im innersten Kreis die ausgewählten und bezahlten, weiter außen echte Trauernde und neugierige Passanten und Familien, die wollten, dass ihre Kinder Zeugen der Geschichte wurden, und Leute, die einfach noch nicht nach Hause mochten. Manche sahen richtig glücklich aus – sie reichten eine Feldflasche mit Alkohol herum, und ein alter Mann spuckte jedes Mal aus, wenn Breschnews Name fiel. Eine Frau heulte ungehemmt, mit verzerrtem Gesicht, wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ab, bis ihre Wangen wundgerieben waren, und wiederholte immer wieder: »Er war ein guter Mann, ein guter Mann. Was soll jetzt bloß werden?«
    Wenn die Massen in Bewegung gerieten, konnte

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