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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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…«
    »Und?«
    »Und Sie sind selbst nicht gerade gemäßigt, oder?«
    Er lachte. »Ich bin überhaupt nichts mehr.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Ich glaube an gar nichts. Ich versuche nur, ein interessantes Gespräch in Gang zu halten.«
    »Ist das so erstrebenswert? Das Gespräch in Gang zu halten?« Ich hatte gar nichts gegen diese Vorstellung. Ich stellte nur reflektierende Fragen, weil ich beschlossen hatte, ihn nicht zu mögen.
    »Wenn es siebzig Jahre lang überhaupt kein Gespräch gegeben hat, ist das sogar sehr erstrebenswert, würde ich sagen.«
    Wir schwiegen beide. Ich fror und rieb meine Hände aneinander, um die Durchblutung anzuregen.
    »Wissen Sie von dem Film, an dem er arbeitet?«, fragte Michail Andrejewitsch nach einer Weile.
    »Natürlich.« Ich stockte. »Welchem noch mal?«
    »Er versucht nachzuweisen, dass die Regierung in die Sprengstoffanschläge von 99 verwickelt war.«
    Das klang vertraut. Ich erinnerte mich vage an Texte über den Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs: eine Reihe merkwürdiger Zufälle, die oberflächlich betrachtet ein wenig zwielichtig aussahen. Doch ich war bis dahin immer der Meinung gewesen, solche Spekulationen seien dieselbe Mixtur aus Halbwissen und Paranoia, die meine schrilleren liberalen Kommilitonen in Cambridge dazu verleitet hatte, obskure Andeutungen über George W. Bush und den 11. September zu machen.
    »Dann stellt er die These auf, dass es ein politisches Manöver war?«, fragte ich.
    »Um Putin an die Macht zu bringen, ja. Putin hat sich von Anfang an als starker Mann positioniert.«
    »Glauben Sie, es ist wahr?«
    »Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe, dass es wahr ist. Das könnte himmelschreiend genug sein, um wirklich etwas zu bewegen.«
    »Um ein interessantes Gespräch in Gang zu halten.«
    »Genau.«
    Er stützte das Kinn auf seine Hand – eine merkwürdig gezierte, feminine Geste, die ihn in Geständnislaune zu versetzen schien. »Um ganz ehrlich zu sein«, sagte er, »bin ich von der Idee mit dem Film ziemlich beeindruckt.«
    »Ja?«
    »Ja. Und ich bin nicht von allem beeindruckt, was Besetow tut.«
    »Das sehe ich.«
    »Aber das hier, das könnte Wellen schlagen.«
    »Und was haben Sie mit dem Film zu tun?«
    Er hüstelte. »Das ist … tja. Das ist genau das Problem. Es ist schwer zu sagen.«
    Ich lehnte mich zurück. »Dann hat man Sie nicht mit einbezogen?«
    »Das hat mit einbeziehen nichts zu tun. Das Ganze ist ein riesiger Apparat mit vielen Hilfsstrukturen, vielen verschiedenen Aufgaben und Rollen. Sehr bürokratisch.«
    »Verstehe.«
    »Das Wahre Russland ist also nicht direkt beteiligt, aber wir sind an der Bewegung beteiligt, also im weiteren Sinne vielleicht auch an dem Film, wissen Sie?«
    »So wie jeder irgendwie an allem beteiligt ist?«
    »Jetzt werden Sie spitzfindig.«
    »Würden Sie sich wünschen, mehr mit dem Film zu tun zu haben?«
    Er lächelte unmerklich. »Wie schon gesagt – nicht jeder bekommt immer das, was er sich wünscht.«
    Es war interessant, gleich beim ersten Kontakt auf ein Zerwürfnis im Bündnis gestoßen zu sein – wie wenn man eine Wiese betritt und gleich in ein Erdloch stolpert. Natürlich hätte ich damit rechnen sollen, Kleingeisterei und Flügelkämpfen, Ressentiments und Reaktionären zu begegnen. Natürlich hätte ich mit Splittergruppen rechnen sollen. Ich hätte nicht sagen können, mit was ich stattdessen gerechnet hatte, und je klarer mir das wurde, desto klarer wurde mir, dass ich mir generell nicht besonders viele Gedanken gemacht hatte.
    Also lehnte ich mich nach vorn. Ich wusste – bestimmt wusste ich es –, dass es den Mann verärgern würde.
    »Erzählen Sie mir von Alexander in den achtziger Jahren«, sagte ich. »Er hat damals eine Samisdat-Zeitschrift herausgegeben, oder?«
    Michail schnaubte wieder. Ich begann mich zu fragen, ob es eine Art Markenzeichen von ihm war. »›Herausgegeben‹ wäre wohl zu viel gesagt. Er war daran beteiligt. Das muss man ihm lassen. Beteiligt war er schon.«
    »Er hat die Zeitschrift selbst ausgeliefert, nicht?« Das war allgemein bekannt; ich war trotz meiner halbherzigen Recherche gleich darüber gestolpert. »Das muss gefährlich gewesen sein.«
    »Gefährlich. Ja. Sicher. Er hätte Opfer eines Attentats werden können oder so.«
    Seine Worte schienen irgendeinen Subtext zu haben, trotzdem sagte ich: »Also.«
    Ich merkte sofort, dass ich ihn an den Rand eines Herzinfarks getrieben hatte. Er atmete bemüht langsam; man konnte ihn förmlich im

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