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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Pomerancowo und Wahres Russland. Pomerancowo schien eine typische liberale Partei zu sein – pro-westlich, demokratisch, reformatorisch, für den Freihandel, für Bürgerrechte, gegen Korruption. Mit dem Wahren Russland war es komplizierter – die Partei war reaktionär und oppositionell, mit dem Status quo unzufrieden, aber voller vager, eher beunruhigender Alternativkonzepte. Sie mobilisierten Unzufriedene aus allen möglichen Lagern, bedienten Fremdenhass und Nationalismus und machten sich die Ressentiments gegen Wanderarbeiter aus Mittelasien ebenso zunutze wie die Abneigung gegen das Regime. Mir war nicht ganz klar, warum das Alternative Russland das Wahre Russland zu seinen Verbündeten zählte, doch einmal stieß ich auf ein YouTube-Video, auf dem Besetow einem Interviewer genau diese Frage beantwortete – er murmelte irgendetwas von den Vorzügen einer breiten, vielseitigen Koalition. Der Vorsitzende des Wahren Russland war ein Mann namens Michail Andrejewitsch Solowjow. Die Parteizentrale lag in der Konjuschennaja Uliza, einen Block von der Moika entfernt, die ich jeden Tag besuchte, um Münzen hineinzuwerfen.
    Ich überlegte, ob ich ihm einen Besuch abstatten sollte. Ich ging an der Zentrale vorbei und ging noch einmal vorbei, trat näher und sah mir die Türklingel an, nur um sicherzugehen, dass sie eine hatten. Ich schlenderte die Fenster entlang, verlangsamte meinen Schritt und sah hinein – um was zu sehen? Alexander Besetow vielleicht,der zu einer Art Bündnistreffen gekommen war und gerade aus dem Fenster blickte und nur darauf wartete, von einer planlosen Amerikanerin belästigt zu werden? Ich sah ein paar schlechtgelaunte junge Menschen im Schein ihrer Computerbildschirme hocken. Alexander Besetow sah ich nicht. Und Michail Andrejewitsch Solowjow ebenso wenig.
    Eines Tages tat ich es doch. Ich hatte keinen besonderen Entschluss gefasst; ich drückte mich wie üblich vor den Fenstern herum und spähte hinein, doch dann packte mich ein Anflug von Selbstekel, und ich marschierte geradewegs zur Tür. Ich klingelte und tat rasch ein paar Schritte rückwärts, als könnte der Abstand mich vor eventuell bevorstehenden Abwehrreaktionen bewahren.
    Die Tür öffnete sich. Ein gelblich-blasser Mann starrte mir entgegen. Mit seinem Gesicht stimmte irgendetwas nicht, wenn ich auch nicht hätte sagen können, was – vielleicht waren die Winkel oder Proportionen kaum wahrnehmbar verschoben.
    »Guten Tag«, sagte ich.
    »Guten Tag.« Das Weiße in seinen Augen war blutrot entzündet. Ich fragte mich, warum sie ausgerechnet ihn zur Tür gehen ließen.
    »Ist dies das Büro des Wahren Russland?«
    Er ruckte ungeduldig mit dem Kopf zum Türschild.
    »Könnte ich Michail Andrejewitsch Solowjow sprechen?«
    Er trat zur Seite und bedeutete mir einzutreten. Die Büroräume waren feuchtkalt und bis unter die Decke mit Papieren und Krimskrams vollgestopft. Zwei junge Männer tippten lustlos auf riesigen, veralteten Computern herum. Die Rechner surrten und schnarrten bedrohlich; sie schienen kurz davor, endgültig den Geist aufzugeben. Ein Telefon klingelte einsam vor sich hin, doch niemand nahm ab.
    Der Mann, der mich hereingelassen hatte, führte mich in ein Hinterzimmer. Er knipste das Licht an. Ein Mülleimer lag umgekippt auf dem Boden, und er beugte sich herab, um ihn aufzurichten. Dabei rutschte sein Hemd hoch, und ein Stück bleichen Fleischesmit spinnenbeinig schwarzen Haaren kam zum Vorschein. Ich verzog das Gesicht. Er rückte einen Drehstuhl zurecht. »Bitte«, sagte er. »Setzen Sie sich.«
    Ich setzte mich. Aus der Nähe fiel mir eine silbrige, sichelförmige Narbe von einem Auge bis zum Wangenknochen auf. Eine merkwürdige Narbe; es war schwer zu sagen, was sie verursacht haben könnte, auch wenn mir ein Feuergefecht am wahrscheinlichsten schien. An der Wand hinter ihm forderte ein ramponiertes Wahlplakat: Russland den Russen!
    »Soll ich hier auf Michail Andrejewitsch Solowjow warten?«
    »Ich bin Michail Andrejewitsch Solowjow«, sagte er. »Sie können mich Mischa nennen.«
    »Ach so?«, sagte ich. »Ach, natürlich.«
    Er starrte mir mit einem unbeweglichen, unangenehmen Blick direkt in die Augen. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. Seine Narbe beschäftigte mich immer noch. Vielleicht war er Soldat gewesen; bei meiner Google-Suche war jedoch nichts dergleichen herausgekommen.
    »Und jetzt wäre es vielleicht angebracht, mir zu sagen, wer Sie sind«, sagte er.
    Seine Hose war zu kurz. Als er

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