Das Leben ist groß
sich zurücklehnte, blitzte ein haariger, weißer Unterschenkel hervor. Ich beschloss, ihm erst einmal die Kurzeantwort zu geben.
»Ich heiße Irina Ellison«, sagte ich. »Ich möchte mich mit Alexander Besetow treffen. In Moskau habe ich mich mit einer alten Bekannten von ihm unterhalten, die mir empfohlen hat, es über seine Kollegen zu versuchen.« Ich hätte gern hinzugefügt, dass ich hoffte, nicht zu stören, wenn es nicht so offensichtlich gewesen wäre, dass ich genau das tat.
»Mit wem genau haben Sie gesprochen?«
»Elisabeta Nasarowna. Sie war seine Sekretärin, glaube ich.«
Michail Andrejewitsch – ich hatte Schwierigkeiten, ihn mir als Mischa vorzustellen – schnaubte. »Seine Sekretärin? So nennt man das heutzutage?«
Ich beschloss, diese Bemerkung zu ignorieren. Ich starrte auf das Plakat über Michails Kopf. »Sie und Alexander Besetow sind doch Kollegen?«
»Ja, sind wir.« Er richtete sich auf, und sein spöttisches Gesicht glättete sich ein wenig. »Das kann man so sagen.«
»Heißt das, Sie könnten mir helfen, ein Treffen zu arrangieren?«
»Ein Treffen. Tja.« Er hustete. »Das dürfte schwierig werden.«
»Nur ein kurzes.«
Michail Andrejewitsch lehnte sich zurück. Er kaute einige endlose Sekunden an seiner Unterlippe herum und sah mich neugierig an – wahrscheinlich, um zu entscheiden, wie viel Zeit er mit mir verschwenden sollte. »Besetow ist ein Waschlappen«, erklärte er schließlich.
Damit hatte ich nicht gerechnet. »Ich dachte, Sie seien Kollegen.«
»Das heißt nicht, dass er kein Waschlappen sein kann. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der dermaßen treudoof an seinem Leben hängt.«
Ich blinzelte. »Ist das der Grund, warum Sie mir kein Gespräch vermitteln können?«
Er feixte wieder, was in der Narbe unter seinem Auge einen Knick verursachte. »Er umgibt sich mit einer Horde Gorillas. Und er geht nie ohne Ganzkörperrüstung aus dem Haus.«
Ich stellte mir eine kugelsichere Weste vor. Und ein Kettenhemd. »Na ja«, sagte ich, »braucht er das nicht?«
Michail Andrejewitsch schnaubte. »Tja, was man nicht alles braucht. Aber nicht jeder bekommt es auch.«
Ich fühlte mich auf einmal hundeelend. Dieses Gespräch lief in die völlig falsche Richtung; es waren irgendwelche unterschwelligen Aggressionen am Werk, die ich nicht orten konnte. Ich hatte gedacht, Besetow würde von allen verehrt, wie mein Vater ihn verehrt hatte. Das war meine entscheidende Prämisse gewesen, meine einzige. Ich rutschte unbehaglich hin und her. »Also ist das Wahre Russland kein Bündnispartner des Alternativen Russland?«, fragte ich.
»Oh, doch. Wir sind einander sehr verbunden. Aber sie mögenuns nicht. Wir sind das uneheliche Stiefkind der Familie. Sie halten sich lieber auf Distanz. Wir passen nicht dazu. Pomerancowo ist ihnen viel lieber, wissen Sie. Butterweiche, westfinanzierte Idealisten. Idioten.«
Ich beschloss, nicht überrascht zu sein, dass er mir all das erzählte. »Und wie ist Ihre Position?«, fragte ich, obwohl mir die Plakate den einen oder anderen Hinweis darauf gaben. »Haben Sie … politische Differenzen?«
»Wir haben ästhetische Differenzen.«
»Ist das nicht ziemlich oberflächlich?« Inzwischen war ich felsenfest davon überzeugt, dass es das einzig Richtige war, mich weiter durch dieses Gespräch zu bluffen.
»Oder sagen wir, spirituelle Differenzen.«
Ich schnaubte, bloß so, um des Schnaubens willen. Michail Andrejewitsch seufzte vernichtend. »Wir denken, dass Veränderungen authentisch und dauerhaft sein müssen. Sie müssen von innen heraus kommen. Deshalb sind wir Populisten. Besetow ist der hinterletzte Elitarist.«
»Ach ja?« Meine Laune besserte sich ein wenig. Elitarismus gefiel mir immerhin besser als Feigheit.
»Absolut. Er mag das russische Volk nicht einmal. Nicht mal für Geld würde er sich mit denen unterhalten. Er sitzt nur da in seiner Festung und schreibt Presseerklärungen und weiß nichts über das Land, das er regieren will.«
»Meinen Sie nicht, dass er einfach nur versucht, am Leben zu bleiben?«
»Meinetwegen. Jeder Idiot kann überleben. Jede verdammte Amöbe kann das. Das nennt man Evolution. Aber was man daraus macht, wenn man erst einmal überlebt hat – darauf kommt es an.«
Das gab mir zu denken. Es klang so einfach, wie er es sagte.
Plötzlich lehnte er sich entschlossen in seinem Stuhl zurück. »Wissen Sie«, sagte er. »Ich bin kein bisschen überrascht, dass Sie hier sind.«
»Sie sind … was?« Ich
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