Das Leben ist groß
Beleidigende an Nikolais Verrat war: wie wenig er sich bemüht hatte, ihn zu verbergen, weil er wusste, dass er es nicht nötig hatte. Er hatte direkt vor ihren Augen Notizen gemacht, verdammt noch mal – und was hatte Alexander sich eigentlich dabei gedacht? Dass Nikolai ihrer Sache derart treu ergeben war, dass er einen steten Fluss neuer Inspirationen zu Papier bringen musste? Das hatte er nicht gedacht; er hatte immer gedacht, dass Nikolai ein Spießer und ein Arschloch war. Doch Iwan hatte er so blind vertraut – Iwan, der jetzt auf ewig der kluge, aufrechte einundzwanzigjährige Junge bleiben würde, der in so vielem recht hatte und sich in der einen Sache irrte, auf die es am meisten ankam –, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, dessen Bild von Nikolai zu hinterfragen. Iwan war immer der gewesen, der sich auskannte, der Vordenker und Visionär, der Kopf des Ganzen. Und jetzt war er tot, und niemand konnte mehr seine Meinungen hinterfragen, weder die über Nikolai noch sonst irgendeine. Alexander hatte sich mit seinen eigenen Stärken und Schwächen abgefunden und vertrat jetzt die Auffassung, dass man in dem, was man am besten konnte, sein Bestes geben sollte, und konnte daher Nikolai neidlos zugestehen, dass er von ihnen dreien der Kompetenteste war. Kompetenz war in Alexanders neuem Leben das höchste Gut. Nikolai hatte sie damals ausmanövriert; er hatte verdient gewonnen, und Alexander wollte ganz gewiss kein schlechter Verlierer sein.
»Das war nur das Aufwärmtraining für Pasadena«, sagte Alexander.Er sah zu, wie Nikolai länger auf einem Cornichon herumkaute, als es unbedingt nötig schien.
»Ach, dann glaubst du immer noch, dass du fährst?«, fragte Nikolai milde. Er tunkte seinen Pfannkuchen in die saure Sahne.
Alexander klappte den Mund zu. »Ja«, sagte er, »das glaube ich.«
»Hmm.«
»Was?«
»Da habe ich aber anderes gehört.«
Und dann war er doch da, der Hass, ein Krampf in der Kiefermuskulatur, der nur schlimmer wurde, weil Alexander wusste, wie ungerechtfertigt er war. Er verdiente es nicht, Nikolai zu hassen. Er hatte den moralischen Standpunkt, der diesen Hass erst möglich machte, längst aufgegeben. Sie waren Kollegen. Verbündete. Genossen. Die Unterschiede zwischen ihnen waren quantitativ, nicht qualitativ. Nikolai mochte ein wenig engagierter sein als er, doch das konnte in ein, zwei Jahren anders aussehen. Und sein neuer Genosse Nikolai hatte ihm etwas Schreckliches, aber Wichtiges zu sagen.
»Wovon redest du?«, fragte Alexander.
»Na ja, angeblich soll es politische Bedenken geben.« Nikolai wand sich, als sei es ihm unangenehm, doch Alexander wusste, dass es ihm nicht leidtat.
»Was für politische Bedenken?«, fragte Alexander. Er fragte nur widerstrebend. Wenn ihm noch etwas anderes geblieben wäre als Schach, hätte ihn die Antwort nicht interessiert. Doch wenn ihm etwas anderes geblieben wäre, wäre er auch nicht hier – dann wäre er nicht so käuflich gewesen, nicht so pflegeleicht, und würde nicht dieses Pläuschchen mit Nikolai Sergejewitsch halten, während seine Cornichons labberig wurden.
Nikolai hob die Brauen und lächelte süßlich. »Ich an deiner Stelle würde mal Peter Pawlowitsch fragen.«
Alexander marschierte im Zickzack zwischen den Gästen hindurch. Peter Pawlowitsch stand in einer Ecke und erzählte einer kleinen Schar gelangweilter Zuhörer eine langweilige Anekdote.Alexander zerrte an seinem Ellbogen, bis Peter Pawlowitsch die Gruppe mit einem gereckten Zeigefinger warten hieß und sich geduldig lächelnd zu ihm umdrehte wie zu einem geliebten, aber anstrengenden Kind. Sie zogen sich in eine Ecke zurück, und Alexander begann sofort zu flüstern.
»Ich soll nicht nach Pasadena? Ist das wahr?«
Pawlowitsch wackelte mit dem Kopf und antwortete, ohne die Lippen zu bewegen. »Psst. Man wird dich noch hören.«
»Wer hat das beschlossen?«
»Das, äh, das ist eine ziemlich neue Entwicklung.«
» Warum wurde das beschlossen?«
»Sei doch leise. Ich habe nichts dagegen, weißt du. Ich will gern, dass du fährst. Aber es geht hier nicht um mich.«
»Sie ziehen einen Spieler zurück? Zum ersten Mal in der Geschichte? Ich verstehe nicht, wie das im Interesse der Sowjetunion sein soll.«
» Ich ziehe doch keinen Spieler zurück. Ich mache überhaupt nichts.«
»Dann eben die FIDE.«
»Hör auf, so mit den Kiefern zu mahlen. Du könntest ruhig ein bisschen dankbarer sein. Es geht schließlich um deine Sicherheit.«
»Geht es
Weitere Kostenlose Bücher