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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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nicht.«
    »Dann geht es um die Olympiade. Die haben Moskau boykottiert. Deshalb können wir dich nicht hinschicken.«
    »Russajew würden Sie schicken.«
    Pawlowitsch rollte mit den Augen. »Das reicht jetzt.«
    »Ich weiß es.«
    »Das reicht. Das mit Russajew ist etwas anderes. Du bist jung. Du kannst problemlos noch drei Jahre warten.«
    Alexander ließ seinen Teller fallen. Triefende Klumpen Fisch und eingelegte Gemüsehappen verselbständigten sich und legten erstaunliche Strecken über den Marmorboden zurück.
    »Ihr seid alle so begeistert von Russajew«, zischte Alexander. »Dabei wisst ihr, dass er nur dem Namen nach Weltmeister ist. Erhat den Titel kampflos von Fischer übernommen. Aber ihr, ihr verehrt ihn. Ihr würdet alles tun, damit er den Titel behält.«
    »Arroganz passt so gar nicht zu dir«, sagte Peter Pawlowitsch und beugte sich herab, um mit seiner Serviette das Essen aufzuklauben. »Und Alkohol auch nicht.«
    »Kann ich es mir nicht leisten, arrogant zu sein?«
    »Du könntest besser sein.«
    Alexander schnaubte. »Ich stehe in der Rangliste dieses Jahr über Russajew.«
    Peter Pawlowitsch richtete sich auf. »In anderen Bereichen, meine ich.«
    Alexander starrte in sein Wodkaglas. Ihm dröhnte der Kopf. Er erinnerte sich an seine sarkastischen Kommentare zu Oleg Tschasow, dem FIDE-Präsidenten, in Hörweite eines Verbandsfunktionärs. Er erinnerte sich, wie er bei einem Diavortrag zu der Überlegenheit russischer Athleten die Augen verdreht hatte. Er erinnerte sich an den Witz, den er der dicklippigen, wenig beeindruckten Frau erzählt hatte, die nicht gelacht hatte, weil es nicht einmal ein guter Witz gewesen war.
    »Wenn du im Herbst bei der Weltmeisterschaft gegen Russajew antreten willst, musst du lernen, dich besser zu benehmen. Noch ist es nicht zu spät, Alexander. Ich setze mich jeden Tag für dich ein, jeden Tag, wirklich.«
    Alexander sah einen Teil seiner runden, uneleganten Nase in seinem Wodkaglas gespiegelt. Er stellte sich ungern vor, wie Peter Pawlowitsch sich gegenüber der Partei für ihn einsetzte, wie er mit dieser schmeichlerischen Stimme, in diesem entschuldigenden Ton um mehr Zeit und mehr Nachsicht bettelte. Alexander begriff, dass er längst einer dieser armseligen kleinen Diktatoren geworden war. Wahrscheinlich gab es eine ganze Armada von Denkern und Strategen, die sich damit befassten, wie sie ihn dazu bringen konnten, genau das zu tun, was sie wollten. Und wahrscheinlich gelang es ihnen jedes Mal.
    »Weißt du das überhaupt? Natürlich weißt du das, oder?«, fragtePeter Pawlowitsch. Er klang zutiefst verletzt. Alexander hatte keine Lust, auf rhetorische Fragen zu antworten. »Du kannst nicht nach Pasadena«, sagte Peter Pawlowitsch. »So leid es mir tut. Du kannst im Herbst gegen Russajew antreten. Aber nur, wenn du mich nicht hängenlässt.«
    Alexander sah Peter Pawlowitsch nicht an; er wusste, dass er diesen falschen Ausdruck nachsichtiger Zärtlichkeit im Gesicht haben würde, den er nicht sehen wollte.
    »Du musst lernen, dich zu benehmen«, sagte Peter Pawlowitsch. »Bitte lass das da mit den Kiefermuskeln. Ich hole einen neuen Teller.«
    Den ganzen ausgefransten Frühling und den grausigen Sommer hindurch benahm Alexander sich vorbildlich. Er hörte aufmerksam zu. Er heuchelte Interesse, wann immer es nötig war, und schwieg, solange es ging. Er stellte keine Forderungen. Er hakte nie nach. Auf Empfängen stellte er sich an die Panoramafenster und schaufelte große Mengen teures Essen in sich hinein, und wenn jemand aus der Partei sich mit ihm unterhalten wollte, tat er immer so, als kaute er noch.
    Das Spiel um die Weltmeisterschaft begann im September. Moskaus Hochhäuser schnappten mit einer modernen, monolithischen Unersättlichkeit nach den Wolken; die Kommunalki ragten monumental und bleich in unregelmäßigen Reihen nebeneinander auf wie schiefe Zähne im Rachen eines riesigen Tiers. Leningrad konnte schon aufgrund seiner Architektur nicht umhin, sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, seinen Triumphen und Niederlagen und seinen Ursprüngen in Rationalität und Euklidischer Geometrie. In den langen Alleen und kurvigen Kanälen Leningrads waren die Hoffnungen der Vergangenheit für die Zukunft aufbewahrt. In Moskau hatte man die Zukunft an sich gerissen, zerlegt und der Gegenwart dienstbar gemacht. Gigantische Spruchbanner verschandelten die Fassaden: Hilf dem Mutterland – diene dem Kommunismus ; Die Gedanken Lenins leben und siegen .

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