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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Auf seinemWeg durch die Gorki Uliza registrierte Alexander, dass die Straße ein Gefühl des unbeschwerten Pragmatismus hätte ausstrahlen können, wenn man geneigt war, so zu denken.
    Am Tag der ersten Partie begleitete ein Gehilfe Alexander und seinen von der Partei zugeteilten Sekundanten Dimitri zum Austragungsort. Der Gehilfe führte sie in die Säulenhalle mit ihren kunstvoll gearbeiteten Leuchtern und reich verzierten Tapeten und wartete vor der Tür, als Alexander einen Abstecher in die prachtvollen Toilettenräume machte und sich übergab. Vor der Tür hörte er das Scharren und Murmeln von fünfhundert Reportern aus siebenundzwanzig Ländern. Er wünschte, niemand hätte ihm je diese Zahlen genannt. Er zog die Spülung und wusch sich das Gesicht. Der Gehilfe hämmerte an die Tür.
    Als er die Stufen zur Tribüne hochgestolpert war, fand sich Alexander endlich Russajew gegenüber. Russajew war schon immer ein imposanter Mann gewesen, und auf der anderen Seite des Spielbretts wirkte er noch massiger und einschüchternder. Die Zuschauer kamen allmählich zur Ruhe und richteten sich auf die kommende Enttäuschung ein. Russajew hatte vier Jahre in Folge die sowjetischen Schachmeisterschaften gewonnen, und es war beinahe anstößig, fanden die Gäste, diesen obszön jungen Mann gegen ihn antreten zu lassen – einen ungelenken, unbeholfenen Jungen mit buschigen Augenbrauen. Alexander schien sich mit jeder seiner Bewegungen entschuldigen zu wollen, dass er überhaupt existierte. Er gab keinen sehr vielversprechenden Gegner ab, und man erwartete einen mühelosen Sieg. Die Zuschauer mochten keine mühelosen Siege.
    Alexander hätte gern vor Beginn des Spiels das Brett berührt, um sich zu sammeln, aber das war nicht erlaubt. Die Schachuhr war bereits gestellt. Russajew rang sich ein beinahe respektvolles Lächeln ab. Alexander waren die weißen Figuren zugelost worden, und als er mit dem Springerbauern eröffnete, ließ er alles – das Publikum, den großen Saal, seine Gedanken – im reinen Schwarz-Weiß des Schachbretts versinken. Das Spiel begann.Wie Schachberichterstatter und -studenten, Sozialgeschichtler und Anekdotensammler immer wieder angemerkt haben, wurde das Spiel fast bis zum Ende von Russajew dominiert. Alexander spielte anfangs viel zu nachlässig und aggressiv (mit der ganzen Respektlosigkeit der Jugend, wie man sich im Zuschauerraum zuraunte). Nach je zwei Remis verlor er eine Partie, und dann verlor er zwei in Folge. Das war ihm noch nie passiert, aber jetzt war es so weit (was bewies, dass der Emporkömmling mindestens halb so dämlich war, wie er aussah, sagte man sich). Als Sekretärinnen die Abschriften der Wertungsbögen in den Presseraum brachten, stampften die Reporter der Sowjetski Sport vor Ärger mit den Füßen auf und schimpften, die ganze Veranstaltung sei einfach peinlich. Seit Fischer auf dem Weg zu Spasski Taimonow überrollt hatte, hatte man keinen so klaren Sieg mehr gesehen (und kein so offensichtliches Ungleichgewicht, murmelte man). Selbst die Jungen am Demobrett langweilten sich sichtlich.
    Dann folgten siebzehn Remis hintereinander. Viele der Pressevertreter gingen. Das Turnier wurde von der prachtvollen Säulenhalle in das baufällige Hotel Sport verlegt. Alexander knirschte beim Essen mit den Zähnen. Er wachte nachts mit furchtbaren Beinkrämpfen auf und hüpfte, sehr zum Missfallen von Dimitri, im Halbschlaf im Zimmer auf und ab. Tagsüber durchstreifte er Moskau, bewunderte das Oktjabrskaja-Hotel gegenüber der französischen Botschaft und zählte die metallenen Muskelstränge des Eisernen Felix vor dem KGB-Hauptquartier. Auf dem Roten Platz starrte er sehnsüchtig auf die schönen Lichter des Staatlichen Kaufhauses und stand vierzig Minuten Schlange, um den wächsernen Lenin zu bestaunen.
    Nie hatte sich Alexander so weit weg von Ocha gefühlt wie in diesen ersten Tagen in Moskau. Er spürte, wie ihm die Weite Russlands den Nacken hinaufkroch. In der weißen Morgendämmerung stand er am Fenster seines Hotelzimmers und glaubte das endlose Flachland im Osten vor sich zu sehen, die immergleichen Dörfer und Weiler, die wie Mondkrater die Landschaft sprenkelten, bissie seltener und seltener wurden und sich schließlich in der stoischen, steingrauen Einöde des Kontinentalschelfs verloren. Er stand am Ende der Welt, und die erschreckende Leere des Alls lastete auf ihm. Ihm wurde schwindelig davon, wie wenn man zu dicht an einem steilen Abhang entlangläuft oder wenn man in

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