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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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den Nachthimmel sieht und sich vorstellt, man sähe gar nicht hoch, sondern nach unten, in die Tiefen eines Ozeans voller phosphoreszierender Lebewesen, deren Leuchtorgane aus einem unerforschlichen Meeresgraben zu uns emporblinken.
    Er träumte so oft davon, gegen Russajew zu spielen, dass er manchmal nicht mehr wusste, welche Fehler er begangen und welche er im Schlaf erfunden hatte. Es wurde Winter. Zwei Monate nach Beginn des Turniers gewann Russajew noch eine Partie.
    Und dann, endlich, als fast niemand mehr hinsah, gewann Alexander eine Partie. Danach folgten vierzehn Remis. Und als die Zuschauer – und einzelne über die Welt verstreute Interessierte – sich reckten und sich die Augen rieben, um sich dem Turnier wieder zuzuwenden, fanden sie am Brett zwei ganz andere Männer vor.
    Alexanders drohende Niederlage hatte ihn entschlossener gemacht. Wenn er in den Spiegel sah, blickte ihm ein halbwaches nachtaktives Tier entgegen. Er vergrub sich tiefer und tiefer in das Spiel, bis alles andere nur noch verschwommen und verwässert zu ihm vordrang. Die Nebensächlichkeiten des Lebens – der Weg zum Austragungsort und zurück, die vom Staat gestellten Mahlzeiten, die kalten Nächte im Hotel mit Dimitri – kamen ihm zunehmend irreal vor, wie Schatten der platonischen Realität seines Spiels. Abseits des Bretts wirkte er unartikuliert, verschlossen und benommen. Er gab den Journalisten, die ihn zu seiner Strategie befragten, zutiefst unbefriedigende Antworten. Er hatte keine bahnbrechenden Erkenntnisse anzubieten, keine faszinierende Biographie, nur die eine oder andere kleine Anekdote von seinen Schwestern auf der Insel. In mehr als einem von der TASS verbreiteten Portrait hieß es, trotz seiner bemerkenswerten Spielstärke sei er nicht gerade der hellste Kopf.
    Doch bei dem Spiel selbst verfolgte er lebhaft und aufmerksam jede Zuckung, jeden Lidschlag seines Gegners. Alle Straßen verwandelten sich für ihn in die Felder eines Schachbretts, und er begann jeden seiner Wege in die Algebraische Notation zu übertragen. D3: Er ging geradeaus zur Speisentheke, um sich Braten, Borschtsch und Pepsi-Cola zu holen, schüchtern und bescheiden wie ein Bauer. De7: Er überquerte majestätisch und selbstgewiss die Bühne bis zum Brett, die Augen mit tödlicher Sicherheit auf das Ziel gerichtet. Sc4: Er sprang mit rassiger Eleganz beiseite, um einem Regierungswagen auszuweichen.
    Russajew ging es weniger gut. Er hatte im Laufe des Turniers fünf Kilo abgenommen, rang hinter seinem vorgehaltenen Taschentuch nach Luft und aß bei den Mahlzeiten fast gar nichts mehr. Seine Haut hing schlaff und überflüssig an ihm herab; er sah zunehmend wie ein Elefant aus, der im Begriff war, seine ritualisierte letzte Reise anzutreten. Manchmal, wenn er einen Zug ausführte, kippte er beängstigend weit nach vorn, und die ohnehin stille Zuschauerschar wurde noch stiller und wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass er zusammenbrach. Er tat es nicht, aber hier und da wurden Bemerkungen laut, in weniger modernen Zeiten hätte das ungebildete Landvolk seine Verwandlung sicher irgendeinem Hexenwerk zugeschrieben und einen finsteren Verdacht gegen Alexander gehegt. Aber dies hier war die Zukunft, und so etwas dachte niemand mehr.
    Im Papierwald raschelte es, denn die Berichterstatter liebten es zu rascheln. Alexander ist der jüngste Spieler auf diesem Niveau seit Michail Tal, raschelte es. Er ist fast so jung wie dieser autistische Amerikaner, raschelte es. Er wird nicht gewinnen, natürlich nicht, es wäre Unsinn, über so etwas zu spekulieren. Aber vielleicht, raschelte es, vielleicht, vielleicht ja doch.
    Dann gewann Alexander die siebenundvierzigste Partie. Dann gewann er die achtundvierzigste. Russajew führte noch immer mit zwei Punkten, aber das Blatt hatte sich gewendet. Alexander richtete sich in seinem Sessel auf. Er schlief nachts besser. Russajewhustete in seinen Hemdsärmel und funkelte ihn aus wässrigen, rotgeränderten Augen an. Am frühen Morgen vor der neunundvierzigsten Partie klingelte Alexanders Telefon.
    Es war fünf Uhr morgens, und Dimitri nahm den Hörer ab. Er lauschte eine Weile und reichte das Telefon an Alexander weiter. »Peter Pawlowitsch ist dran«, sagte er.
    »Wer auch sonst«, sagte Alexander. Es war für einen Februar recht warm, also weiterhin sehr kalt, und Alexander blieb, ohne Licht zu machen, in seinem Bett. Vor den Fenstern hörte er das schmelzende Eis durch die Kanaldeckel tröpfeln. »Was ist?«,

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