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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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fragte er.
    Peter Pawlowitsch schniefte. »Du bist morgens nicht gerade ein Sonnenschein, weißt du?«
    »Was wollen Sie?«
    »Noch nicht ganz ausgeschlafen, wie?«
    »Was?«
    »Keine Sorge, du kannst dich wieder hinlegen. Das Turnier wird unterbrochen.«
    » Was? « Alexander setzte sich auf und spürte, wie die seltsam feuchte Kälte des Hotelzimmers sich ihm um Rumpf und Schultern legte. Dieses verdammte Zimmer hatte anscheinend ein weltweit einzigartiges Mikroklima.
    »Die FIDE hat beschlossen, das Turnier vorerst zu unterbrechen. Bis die Unregelmäßigkeiten ausgeräumt sind.«
    »Unregelmäßigkeiten? Was für Unregelmäßigkeiten?«
    Dimitri streckte eine Hand nach dem Lichtschalter aus und blinzelte aus schlaftrunkenen Augen interessiert zu ihm herüber.
    Peter Pawlowitsch nieste. »Gewisse …. Abweichungen eben.«
    »Wovon reden Sie überhaupt?«
    »Reg dich doch nicht auf.«
    »Meinen Sie, weil ich jetzt gewinne?«
    »Natürlich nicht. Und du gewinnst auch nicht.«
    »Es war nicht vorgesehen, dass ich ihn schlagen würde, oder?«
    »Also weißt du, es ist doch immer dasselbe mit dir.«
    »Aber warum jetzt ?«
    »Du hast Russajew ja gesehen, oder? Der Mann ist schwer krank.«
    »Er ist nicht krank!« Alexander trat gegen Dimitris Bett, und sein Sekundant zog sich rasch Richtung Wand zurück. »Er ist bloß alt! Er ist ein Wrack. Er ist erschöpft, weil er verliert und weil Verlieren so anstrengend ist. Ich muss es schließlich wissen, ich habe selbst fünf Monate lang verloren. Da haben Sie sich allerdings keine Sorgen gemacht.«
    »Du wirst immer kindischer.«
    »Und Sie werden immer korrupter. Ich habe dem Mann achtundvierzig kostenlose Lektionen erteilt.«
    »Diese Farce hat jetzt sechs Monate gedauert. Es wird allmählich peinlich.«
    »Peinlich für wen?«
    »Für alle Beteiligten. Nicht zuletzt auch für dich. Wir haben mehr von dir erwartet, Alexander.«
    »Haben Sie nicht. Offensichtlich nicht.«
    »Für morgen ist eine Pressekonferenz angesetzt«, sagte Peter Pawlowitsch. »Dort wird verkündet, dass das Turnier ergebnislos abgebrochen wird. Es ist zu einem physiologischen Leistungstest verkommen.«
    »Ist es nicht.«
    »Die Pressekonferenz ist morgen, und du wirst dabei sein.«
    Dimitri war aufgestanden und zog die Vorhänge auf, um die triste, spärliche Dämmerung hereinzulassen.
    »Werde ich nicht«, sagte Alexander.
    Peter Pawlowitsch lachte. »Du vergisst, dass ich dich kenne, Alexander. Besser als jeder andere vielleicht.« Er nieste wieder. »Du wirst kommen. Natürlich wirst du das.«
    Am Tag der Pressekonferenz erwachte Alexander früh. Dimitri lag noch mit halboffenem Mund, die Hände wie bei einem Neugeborenenzu Fäusten geballt, schlafend im Bett, und Alexander starrte auf ihn herab und fragte sich, wie Dimitris bisheriges Leben verlaufen war. Die Vorstellung, dass Dimitri die gleichen Kompromisse gemacht und die gleichen Probleme durchgestanden hatte, nur um neben Alexander am Tisch sitzen und seinen Geisteszustand im Auge behalten zu dürfen, stieß ihn ab. Wenigstens hatte er, Alexander, seine Seele für ein etwas ruhmreicheres Leben verkauft.
    Dimitri schlug die Augen auf und fuhr hoch. »Was tun Sie?«
    Alexander trat einen Schritt zurück. »Wir müssen bald los.«
    Andererseits saßen sie jetzt in demselben muffigen Hotelzimmer fest, sahen Abend für Abend dieselben langweiligen Fernsehsendungen, kauten wieder und wieder dieselben Schachzüge durch – und Dimitri hatte, wenn alles vorbei war, zumindest eine Verlobte, ein Leben, in das er zurückkehren konnte.
    Dimitri sah ihn verständnislos an.
    »Zur Pressekonferenz.«
    »Brauchen Sie mich dort?«
    Alexander gab ungern zu, dass er Dimitri überhaupt jemals brauchte, und wollte nicht ausgerechnet jetzt damit anfangen.
    »Das gehört zum Protokoll«, sagte Alexander. Dimitri hegte eine geradezu religiöse Ehrfurcht vor allem, was mit dem Protokoll zusammenhing.
    Zwölf Minuten darauf eilten sie durch den Schneematsch die Straße hinunter. Dimitri hatte eine chronisch laufende Nase, und heute war es nicht anders. Immer wieder legte er den Kopf in den Nacken und tat, als gäbe es dort oben etwas zu sehen, oder fand einen Vorwand, sich mit dem Ärmel über das Gesicht zu wischen. Alexander fragte sich, seit wann die rhinologischen Probleme seiner Mitmenschen eine so wesentliche Rolle in seinem Privatleben spielten.
    Bei der Pressekonferenz stand Alexander unbeholfen neben dem FIDE-Präsidenten Oleg Tschasow auf der Bühne. Auf

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