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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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dessen anderer Seite stand Russajew. Die Reporter wirkten erschöpft, Vitamin-D-depraviertund wahnsinnig gelangweilt. Im Blitzlicht der Kameras blinkten ihre Namensschildchen. Peter Pawlowitsch saß in den hinteren Reihen und betrachtete Alexander mit der bittersüßen Ergriffenheit einer Mutter, die ihren soldatischen Sohn in den sicheren Tod schicken wird.
    Tschasow hielt einen längeren Monolog über das endlose Turnier. Er wies auf Russajew, der sich, schwach lächelnd, mit den leuchtenden Augen eines religiösen Eiferers die Lippen leckte. Alexander bemühte sich, keine Grimassen zu ziehen.
    »Wie Sie alle wissen, dauert dieses Spiel bereits mehrere Monate«, sagte Tschasow. »Die Spieler haben sich bis zur Erschöpfung und darüber hinaus verausgabt.«
    Alexander sperrte die Augen weit auf. Er wollte keinesfalls erschöpft aussehen. Er versuchte den Zuschauern klarzumachen, dass er jung und voller Leben war, intelligent und – was das Wichtigste war – ein potentieller Sieger, wenn das Turnier fortgesetzt würde.
    »Unsere Spieler haben sich ehrenvoll geschlagen. Alexander Besetow hat sich trotz seiner anfänglichen Schwierigkeiten« – die Zuschauer ließen ein leises, wissenden Lachen hören, und Alexander bemühte sich nicht mehr, nicht zu grimassieren – »als … nun, als sehr ausdauernder Gegner erwiesen. Und Igor Russajew, unser verehrter Meister, hat während dieser Begegnung einige seiner bisher besten Partien gespielt. Ihm zuzusehen war uns allen eine Ehre und ein Privileg.«
    Russajew senkte bescheiden den Kopf. Das kam Alexander nicht richtig vor. Nur ein Sieger durfte derart demütig sein. War es nicht beschämend (ein bisschen, ein kleines bisschen nur), den Titel kampflos zuerkannt zu bekommen und dann die Chance zu verschenken, ihn zu verteidigen? Alexander hatte ihm mit seiner Herausforderung einen Gefallen getan; er hatte Russajew die Chance gegeben, seine gesamte lächerliche Karriere im Nachhinein zu rechtfertigen, und das konnte er nicht allein erledigen.
    »Doch jetzt«, fuhr Tschasow fort, »müssen wir diese Veranstaltung beenden, bevor sie vollends zur Farce verkommt.«
    Russajew lächelte tapfer.
    »Das Turnier ist nur noch eine Prüfung des körperlichen Durchhaltevermögens, nicht der geistigen Fähigkeiten. Dies sind keine fairen Bedingungen mehr, um die Spielstärke dieser Männer zu ermitteln.«
    Vielleicht lag es an der Erwähnung von Fairness – solche Abstrakta trieben Alexander in letzter Zeit zur Raserei. Oder vielleicht lag es daran, wie Russajew dastand – bleich und übermäßig wohlerzogen.
    »Entschuldigung«, sagte Alexander. »Ich habe … Entschuldigen Sie.« Die Reporter wirbelten herum, um Alexander anzusehen, als sei ihnen gerade erst aufgefallen, dass es ihn gab. Sie hoben ihre Kameras. Sie zückten ihre Notizblöcke.
    »Bitte?« Tschasow starrte ihn entsetzt an.
    »Also«, sagte Alexander, »wir wollen beide weiterspielen. Oder irre ich mich?«
    »Was sagen Sie da?« Über Tschasows Kopf blickten Lenin und Gorbatschow gleichgültig aus gerahmten Portraits hervor. Gorbatschows Muttermal hatte die Farbe rohen Fleisches und die Form des Königreichs Thailand.
    »Also«, sagte Alexander. Seine Stimme klang fremdartig – zu unterwürfig, eine halbe Oktave höher als normal. »Ich verstehe nur nicht, warum die FIDE eingreifen und das Spiel unterbrechen sollte, wenn beide Spieler weitermachen möchten.«
    Die Reporter begannen zu schreiben. Pawlowitsch schüttelte nachdrücklich den Kopf. Eine Kamera blitzte Alexander ins Gesicht. Es war zu spät für einen Rückzieher.
    Alexander räusperte sich und versuchte, seine normale Tonlage wiederzugewinnen. »Wir wissen alle, dass er seinen Titel nicht ehrenhaft gewonnen hat. Vielleicht möchte er ihn ja ehrenhaft verteidigen?«
    »Genug jetzt«, sagte Tschasow streng.
    »Ich frage mich nur …«, sagte Alexander. Er sah die Filmkameras an. Ihm fiel ein, dass man immer der mit dem Licht folgensollte. Pawlowitsch starrte ihn fassungslos an. »Ich frage mich nur, ob das hier mit Korruption zu tun hat. Vielleicht sollten wir Russajew direkt fragen, was er vorziehen würde.«
    Tschasow bedeutete den Reportern, die Kameras abzuschalten. Er machte Gesten, als wollte er sich die Kehle durchschneiden und als zöge er Stecker aus der Wand. Er schob sich zwischen Alexander und das Mikrophon. »Es hat ein kleines Missverständnis gegeben«, sagte er. Peter Pawlowitsch hielt sich mit beiden Händen den Kopf, und Alexander hoffte

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