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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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weiter.«
    »Verstanden.«
    »Im Voraus gern geschehen«, sagte Peter Pawlowitsch mit einem traurigen Schniefen. »Bestimmt liegt die Dankeskarte schon in der Post.«
    Das Spiel ging weiter, und Alexander spürte zersetzende Paranoia in sich aufsteigen. Er begegnete Dimitri mit tiefem Misstrauen. Erbeobachtete, wie Dimitri sich unbewusst auf den Lippen herumkaute oder sein dummes Gesicht rasierte (unnötig, immer unnötig) oder am Telefon über Nichtigkeiten sprach – mit seiner langweiligen Freundin angeblich, aber Alexander war sich nicht mehr sicher, dass das stimmte. Bei einigen Eröffnungen hatte Russajew ein wenig zu schnell, ein wenig zu sauber reagiert, und Alexander begann sich zu fragen, ob Dimitri bestochen worden war, seine Eröffnungszüge an Russajew durchzugeben. Sobald Alexander sich das fragte, war er überzeugt. Die Theorie bewegte sich in seinem Hirn wie ein mechanischer Apparat. Das Getriebe schaltete; die Riemen zogen an.
    Als Alexander den Parteiarzt besuchte – um gewogen und begutachtet und betastet zu werden wie ein wertvolles Stück Vieh –, wurde er nach seinem Belastungsniveau, seinen Alpträumen, seinen Sorgen, seinen Ängsten befragt. Alexander saß auf der Stuhlkante und weigerte sich zu antworten. Diese Fragen waren zu zielgerichtet; Alexander hätte sich nicht gewundert, wenn auch der Arzt in der Sache mit drinsteckte. Egal – er war nicht umsonst ein Schachgenie. Alexander baumelte mit den Beinen und sprach gutgelaunt über die Annehmlichkeiten des Spiels: den Trost, den die Siege boten, die Weisheit, welche die Niederlagen mit sich brachten. Der Arzt presste die Lippen flach wie eine Klinge aufeinander. Er machte sich eine Notiz.
    Am Ende dauerte das Spiel dreiundfünfzig Partien – eine unendliche, undenkbare Zahl. Die Reporter waren abwechselnd ehrfürchtig und schadenfroh und gelangweilt und fassungslos. Als die letzten Züge ausgeführt wurden – als Alexander seine Dame den offenen Armen von Russajews wartendem Läufer überließ –, beugten die Zuschauer sich vor, konzentriert, atemlos. Die Kameras schnappten wie konsternierte Schildkröten. Alexander ließ die Knöchel knacken und lockerte seine Finger. Er rückte seine Schultern zurecht. Er sah als Erster, wie Russajews Blick sich trübte – nicht mit Tränen, sondern mit der matten Verwirrung eines Kindes, das erklären soll, wie es eine abgeschriebene Matheaufgabegelöst hat. Die Zuschauer sahen es nicht, also beugten sie sich weiter vor, hielten still und mühten sich gemeinsam, zu begreifen, was da vor sich ging – war es verrückt, selbstmörderisch, ein Wunder? Auf Lichtwellen, die jede Grenzkontrolle unterliefen und jedes Protokoll missachteten, strahlten die steifen Gestalten Alexanders und Russajews ins All hinaus. Staubkörner rieselten von der Decke, fingen das spärliche Lampenlicht ein und verliehen dem Raum eine matte, traumgleiche Atmosphäre. Alexander trommelte mit den Fingern; er wusste, wie grausam und theatralisch das war. Russajews Gesicht übergoss sich mit ungläubigem Staunen, dann nahm es den beinahe dankbaren Ausdruck eines Menschen an, dessen bittere Enttäuschung endlich tiefer Erschöpfung weicht. Er hatte begriffen. Er machte seinen nächsten Zug mit resignierter Anmut. Der Rest war reines Ritual, war das herrschaftliche Reglement, das ein Heer auf dem Rückzug befolgt. Russajew lächelte leicht und schluckte. Alexander blinzelte und sah die Zukunft vor sich aufblitzen. Seine Hände zitterten, sein Kopf leerte sich, ein arktisch kalter Draht zog sich ihm von der Kehle bis in den Magen, und es verblüffte ihn, wie sehr der größte Augenblick seiner Karriere einem Moment absoluten Grauens glich.
    Und dann war es vorbei. Russajews König lag auf der Seite, und Russajew unterschrieb den Punktestand, und Alexanders Ohren versagten ihm den Dienst. Ein Mann kam mit einem Raubtierlächeln auf die Bühne gestürmt, mit ausgestreckter Hand und einem Pokal.
    Später saß Alexander in der Hotelbar, während Dimitri die Koffer packte. Im Staatsfernsehen sprach ein hässlicher Nachrichtensprecher über Alexanders Sieg. Es war viel von seiner Jugend die Rede, als sei es das Beste, was man über ihn sagen konnte, dass er den Anstand besessen hatte, nicht allzu lange auf der Welt zu sein.
    Am nächsten Morgen wurde Alexander wie so oft vom Klingeln des Telefons geweckt. »Geh ran, Dimitri«, ächzte er, bis ihm wieder einfiel, dass Dimitri nicht da war; er war am Abend davor mithochroten Ohren

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