Das Leben ist zu kurz für Knaeckebrot
ist das Herz ein trotzig und verzagtes Ding; wer kann es ergründen?
JEREMIAS, 17,9
Wir Frauen im ewigen Trotzalter haben meist sehr feine Antennen dafür: wer ist auf meiner Seite, wer ist gegen mich? Und wir machen uns das Leben oft selbst schwer. Wir nehmen harmlose Bemerkungen übel, unterstellen anderen böse Gedanken. Nie werde ich eine Situation vergessen, die 20 Jahre zurückliegt. Ich hatte bei der Vorstellung meines ersten Buchs im Büro einer Freundin in einer offenen Tür gestanden, zwei Stufen hoch, damit die Gäste mich alle sehen konnten.
Nach meinem Vortrag kam eine Frau auf mich zu und sagte begeistert: »Frau Asgodom, war das schön. Nein, wie Sie den Türrahmen ausgefüllt haben!« Ich wäre fast zusammengebrochen. »Den Türrahmen ausgefüllt...« Oje, wie peinlich! Was die Besucherin als Kompliment gemeint hatte, kam bei mir als Beschämung an. Ich habe viele Jahre gebraucht, um mein Misstrauen abzubauen und ernst gemeinte Komplimente und direktes Lob annehmen zu können. Na ja, zu 90 Prozent, sagen wir mal.
Ja, Dicke sind empfindlich.
Sie haben eine dünne Haut.
Mir fällt ein Rückfall ein: Vor vier Jahren habe ich mich eine Zeit lang von einer klugen, warmherzigen Therapeutin coachen lassen. Ich lebte allein, brauchte jemanden, dem ich mein Herz ausschütten konnte. Irgendwann war auch mein Gewicht und meine fehlende Selbstliebe Thema.
Wir haben gute Gespräche geführt, ich habe eine ganze Menge Verletzungen »heilen« können, wofür ich ihr heute noch dankbar bin. (Der Zettel »Ich bin attraktiv«, den ich in einer Coachingstunde aufschreiben musste, hing zwei Jahre lang in meinem Badezimmerschrank, bis ich meinen heutigen Mann kennenlernte und dachte: Was soll der blöde Zettel? Das weiß ich doch!)
Aber dann ist etwas geschehen, worauf ich das Coaching von einer Stunde zur anderen abgebrochen habe. Ich glaube, mein Coach weiß bis heute nicht, warum ich nie wieder zu ihr gekommen bin. Es ist Zeit, es ihr zu erzählen. Denn diese Situation läuft in meinem Kopf immer wieder wie ein Film ab, live und in Farbe.
Hier für Sie die Kurzfassung: Ich kam in die Coachingstunde und erzählte, dass es mir in der vergangenen Woche wieder nicht gelungen war, weniger zu essen.
Und sie sagte: »Ach, Frau Asgodom, das schaffen Sie schon noch!«
Das war leider der falsche Satz.
Warum der falsche? Ich zog mich in mein Dicken-Schneckenhaus zurück und dachte verbittert: »Also doch, sie ist also auch auf deren Seite.«
Die - das waren: meine Mutter, die Abnehmgruppen-Leiterinnen, Freundinnen, die mir Diätrezepte schicken; Frauen, die blöde Bemerkungen machen; Frauenzeitschriften
mit ihrem künstlichen Frauenbild und den passenden Diäten; Fernsehen, Werbung, Politik, Gesellschaft, diese ganze dickenfeindliche Welt da draußen.
Was hätte ich mir von meinem Coach, erwartet? Dass sie auf meiner Seite steht. Diesen Satz hätte ich erwartet: »Das macht doch nichts, Frau Asgodom, Sie sind okay, wie Sie sind.« Aber der kam nicht.
Jetzt denken Sie vielleicht, mein Gott, ist die empfindlich. Ja, das bin ich. Wollen Sie wissen, wie sehr? Ein Vergleich: Haben Sie sich schon mal die Fersen in neuen Schuhen aufgerieben? Erinnern Sie sich an die irrsinnigen Schmerzen, die Sie bei jedem Schritt hatten? Tagelang konnten Sie keine festen Schuhe anziehen. Dann heilt die Wunde langsam, eine neue dünne Haut bildet sich. Erinnern Sie sich auch noch, wie lange so eine Ferse empfindlich ist? Stellen Sie sich vor, jemand würde jetzt mit einer Nadel da hineinstechen. Autsch.
So ähnlich fühlt sich die Seele einer Dicken an, wenn sie getroffen wird, empfindlich, wund. Ich glaube, die meisten Dicken sind extrem dünnhäutig und tun alles, damit es niemand sieht. Vielleicht essen sie sich deswegen ein »dickes Fell« an (eine entsprechende Studie gibt es meines Wissens leider noch nicht).
Okay, genug Dramatik. Hier eine kleine Geschichte, die auf einem anderen Weg Verständnis wecken soll - für Frauen, die anders sind, als die gesellschaftliche Norm es verlangt:
Wenn es anders wäre...
»Wir schreiben das Jahr 2020. Bianca, 33, steht in der Umkleidekabine eines Designershops und ist total verzweifelt. Es passt einfach nichts. Vorhin dieser abschätzende Blick der Verkäuferin, Bianca kennt ihn schon, diesen Scannerblick, vom Kopf an ihrem Körper herunter zu den Füßen und wieder hinauf. Und dann dieses blasierte, abfällige Lächeln, diese hochgezogenen Augenbrauen, dieser leicht angeekelte Mund,
Weitere Kostenlose Bücher