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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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verstehe nicht ganz ...«
    »Ich bin, was man einen selbstverachtenden Juden nennt. Ein schwuler Jude voller Selbsthass.«
    Oh! Schwul! Das erklärte alles! Innerlich lächelte ich, dankbar, dass er mir Bescheid sagte, bevor ich mich vollkommen lächerlich machte. Aber warum der Selbsthass? Hatte es damit zu tun, dass er schwul war?
    »Hasst du dich wirklich, Nathan?«
    »So sehr wie Vanillepudding.«
    »Ich liebe Vanillepudding«, versicherte ich schnell.
    »Ich auch. Vor allem, wenn er mit echter Vanille und Eiern und einem Hauch Muskat gemacht ist.«
    »Aber warum ...« Vielleicht war seine geringe Größe der Grund.
    »Entschuldige, Georgia, ich wollte dich nicht mit meinen Komplexen belasten. Selbsthass ist nur ein Etikett, das die Neozionisten den Leuten aufkleben, die anderer Meinung sind als sie; entweder ist man ein Antisemit oder ein selbst verachtender Jude.«
    Er schenkte mir ein männlich-attraktives, intelligentes Lächeln und schob die Hornbrille hoch, die ihm auf der hübschen Nase heruntergerutscht war. Schwul. Wie schade!
    »Bei uns gab's immer das Zeug aus der Packung. Von Bird's«, hörte ich mich daherreden, die Pause füllen. »Aber meine Eltern waren keine Antisemiten. Mein Vater ist Sozialist. Einmal ist er auf jemanden losgegangen, der den Verkäufer in der Fish-and-Chips-Bude Itaker genannt hat. Mama ist eher ... Anarchistin, würde ich sagen. Sie würde auf jeden wegen allem losgehen.«
    Noch während ich redete, dachte ich an die Spaße der Männer bei der Bergarbeiterwohlfahrt in Kippax. Tunte. Schwuchtel. Warmer Bruder. Beiläufige alltägliche Beleidigungen waren die Währung der Verachtung in meiner Heimat.
    Papa war vielleicht kein Antisemit, aber ich hatte nie erlebt, dass er auf jemanden losging, wenn einer dieser Ausdrücke fiel. Mama dagegen hatte Keir mal eine Standpauke verpasst, weil er einen seiner Lehrer Schwuchtel genannt hatte. »Er ist ein sehr netter Mann, euer Mr. Armstrong, auch wenn er hormosexuell ist.«
    »Und dein Vater?«, fragte ich Nathan.
    »Ja, also, Tati ist bei mir eingezogen, nachdem meine Mutter starb und Raoul ausgezogen ist. Damit hat er meinem Liebesleben sozusagen den Garaus gemacht.« »Ist er grob zu deinen Freunden?« »Nein, nein. Aber er singt.« Ich lachte. »Das klingt nett.«
    »Ist es auch. Aber kein Mensch kann eine unbegrenzte Menge an Liedern vertragen.« Dann raunte er verschwörerisch: »Ich hoffe immer noch, dass sich irgendwann eine nette Witwe seiner annimmt.«
     
    Wir blieben vor dem nächsten Foto stehen - ein kleines Mädchen, dessen Hände zusammengeklebt waren. Sie weinte mit weit aufgerissenem Mund und vor Schmerz zusammengekniffenen Augen.
    »Oje. Wie in jeder Gebrauchsanweisung nachzulesen, ist einer der Nachteile der festen Haftung, dass eine Trennung meistens nicht ohne Beschädigung der Fügeteile möglich ist«, bemerkte Nathan trocken.
    Das war einer der Aspekte von Klebstoffen, die mich insgeheim immer beunruhigt hatten. Ich starrte das Foto an. Die Hoffnungslosigkeit der Lage, in der das Mädchen steckte, griff mir ans Herz.
    »Ich weiß, was du mit Selbstverachtung meinst, Nathan. Ich verachte mich auch manchmal.«
    »Wirklich, Georgia?«
    »Ja. Ich meine, oft komme ich mir so dumm vor. Oder unfähig. Oder unausstehlich. Oder ich wünschte, ich wäre jemand anders.« Meine Stimme zitterte kläglich. »Ich habe das Gefühl, ich habe mein Leben verpfuscht.«
    Wie wäre mein Leben verlaufen, fragte ich mich, wenn ich mit Vanillepudding mit Eiern und Muskat und echter Vanille aufgewachsen wäre statt mit Bird's Instantpulver und Tiefkühlpommes? Wäre ich ein anderer Mensch geworden, gewandter und geistreicher? Hätte ich eine großartige Karriere gemacht oder eine Reihe von Bestsellern geschrieben? Hätte mein Mann mich nicht verlassen? Das Problem war, ich war mit Rip verbunden; Cyanoacrylat: permanente Haftung. Er war der einzige Mann, den ich wirklich geliebt hatte, und ganz egal wie wütend ich auf ihn war, ich wusste, ich würde nie wieder jemanden so lieben wie ihn. Ich hatte Tränen in den Augen. Nathan legte den Arm um mich und drückte mich freundschaftlich.
    »Klebstoff kann eine vertrackte Angelegenheit sein.«
    Ich lehnte den Kopf an seine Schulter, die genau in der richtigen Höhe war, wenn ich ein wenig in die Knie ging, und ließ die Tränen warm an meiner Nase herunterlaufen. Er stand einfach nur da und ließ mich weinen. Nach einer Weile zog ich ein zerknülltes Taschentuch aus der Tasche und tupfte mir

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