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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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komme gleich.«
    Herrgott noch mal. Es war nur ein Klettverschluss. Doch so wie er an meinen Handgelenken befestigt war, zog er sich nur enger zu, wenn ich daran riss. Ich versuchte, die Hände durch die Schlaufen zu bekommen, aber sie hatten kein Spiel mehr. Ich hörte das Knistern der Kletthäkchen unter dem Druck. Dann knisterte es nicht mehr. Meine Daumengelenke waren im Weg. Meine Handgelenke waren wund. Meine Arme taten weh. Mein Herz raste.
Keine Panik. Ein - zwei - drei -vier. Aus - zwei - drei - vier.
    »Willst du eine Tasse Tee, Mum?«
    »Das ist lieb, danke. NEIN! Nein, schon gut. Stell einfach den Kessel auf. Ich komme runter.«
    Dann versuchte ich es mit den Zähnen. Wenn ich mich reckte und streckte, schaffte ich es beinahe, mit dem Mund mein linkes Handgelenk zu erreichen. Nur noch zwei Zentimeter. Doch näher kam ich nicht. Ich versuchte es auf der anderen Seite. Da war es noch schlimmer. Meine Arme waren nicht lang genug. Oder vielleicht waren sie zu lang. Ich versuchte es noch mal links. Ich zog und zerrte.
    Wenn ich die Zunge herausstreckte, konnte ich den Klettverschluss mit der Zungenspitze berühren - aber ich bekam ihn nicht zwischen die Zähne. Als meine Schulter sich anfühlte, als würde sie auskugeln, gab ich auf. Erschöpft legte ich mich auf die Kissen zurück und ging meine Möglichkeiten durch. Dann stellte ich fest, dass ich keine Möglichkeiten hatte. Naja, die einzige Möglichkeit war, Ben um Hilfe zu rufen. Aber das war eigentlich keine Möglichkeit. Lieber wäre ich gestorben. Dann kam mir noch eine unangenehme Erkenntnis. Ich musste aufs Klo.
    »Das Wasser kocht!«
    »Gut! Danke!«
    Ich könnte Ben sagen, dass es ein Unfall war. Oh, ja. Ich könnte so tun, als wäre es eine Art Experiment gewesen. Ein Spiel. Ich übte für ein Theaterstück. Was man eben so macht. Das Problem war nur, die Bettdecke hing unten an meinen Knien, und ich trug immer noch den roten Schlüpfer. Und sonst nichts. Ich konnte nichts tun, als mich wieder auf das Knistern zu konzentrieren. Jedes Knistern war ein Haken, der sich löste, redete ich mir ein. Ich musste mir einfach Zeit lassen.
    Vergiss deine Blase. Konzentrier dich auf die Handgelenke. Konzentrier dich auf ein Handgelenk nach dem anderen. Anscheinend hatte ich mehr Kraft im rechten Handgelenk. Ich stellte fest, dass ich durch eine Bewegung des Daumengelenks und das Strecken der Finger das Knistern verstärken konnte. Knister-knister-knister. Knister-knister-knister. Je sanfter ich vorging, desto mehr knisterte es. Inzwischen konnte ich den rechten Daumen schon recht gut bewegen. Ich konnte den Daumen in die Hand falten und schieben ... und schieben ... ja, das war es. Meine rechte Hand war frei. Ich griff nach der linken und befreite auch sie. Dann nahm ich den Bademantel und rannte aufs Klo.
    »Alles klar, Mum?«
    »Ja. Hauptsache, das Wasser kocht.«
     
    Zwei Minuten später schlenderte ich in Jeans und Pullover und mit einem unbekümmerten Lächeln im Gesicht in die Küche. Ich goss heißen Tee über den Teebeutel.
    »Danke, Ben. Ich musste das unbedingt heute fertig bekommen.« Er musterte mich neugierig. Ich versteckte die Hände hinter dem Rücken, damit er die wunden Stellen an meinen Handgelenken nicht sah. »Alles klar, Mum? Du siehst irgendwie ... rot aus.« »Rot?« Ich wurde rot. »Hast du dich geprügelt?« »Nein, eigentlich nicht. Warum?« »Du wirkst - irgendwie - seltsam.«
    Erst als ich vor dem Schlafengehen noch mal aufs Klo ging, bemerkte ich, dass der rotschwarze Spitzenschlüpfer noch verknäult im Bad auf dem Boden lag. Hatte Ben ihn bemerkt, als er nach oben ging? Sollte ich mit ihm reden? Sollte ich sagen, es war Stellas? (Schäm dich, Georgie!) Oder sollte ich einfach den Mund halten?
    Das tat ich dann.
     

37 - Ohne Mauern
    Neuerdings aßen Ben und ich manchmal im Wohnzimmer am Gaskamin vor dem Fernseher - eine gemütliche Angewohnheit aus Kippax, die wir übernommen hatten, jetzt, da wir nur noch zu zweit waren. Und so saßen wir am Donnerstag mit den Tellern auf dem Schoß auf der Couch und sahen die Sieben-Uhr-Nachrichten - die ganz normale Mischung aus Elend, Not und Klatsch. Ich wollte gerade umschalten, als ein Bericht über den Atomraketenabwehrschild kam, den die Amerikaner in Polen gegen Raketen aus dem Iran aufstellen wollten. Ich wusste, dass ich in Geographie nicht gerade firm war, aber war das nicht der falsche Kontinent? Dann fiel mir auf, dass Ben sehr still geworden war. »Mach dir keine Sorgen«,

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