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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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sagte ich. »Das funktioniert sowieso nicht.«
    Ben starrte den Bildschirm an.
    »Es ist die Prophezeiung. Gog und Magog.« Seine Stimme war fast ein Flüstern. »Sie bereiten sich auf die Raketen vor.« »Welche Raketen?«
    Ben schob den Teller beiseite, rutschte vom Sofa und kniete sich vor mich hin. »Mum, ich flehe dich an. Lass Jesus in dein Herz.«
    Er streckte mir die Hände entgegen, als bettelte oder betete er - mein armer, entzweigebrochener Junge. Ich nahm seine Hände - sie zitterten. Ich wusste, dass nichts, was ich sagen konnte, das Richtige wäre, deshalb sagte ich nichts und hielt einfach nur seine Hände fest in meinen. Dann schloss er die Augen und begann zu sprechen - es war mehr eine Art Gesang - mit dieser irritierenden Hebung am Ende.
    »Hesekiel achtunddreißig? So spricht der Herr? Siehe, ich will an dich, Gog, der du der oberste Fürst bist in Mesech und Thuba. Siehe, ich will dich herum lenken und will dir einen Zaum ins Maul legen und will dich herausführen mit allem deinem Heer, Ross und Mann? Und mit dir Perser, Äthiopier und Libyer? Dazu Gomer und all sein Heer samt dem Hause Thogarma mit all seinem Heer? Die alle Tartsche und Schild und Schwert führen?«
    Ich musste an das
Herr-der-Ringe-Voster
in seinem Zimmer denken: die Orks mit ihren zweitklassigen Gebissen, die riesigen, exotischen, computeranimierten Heere, die aufmarschierten. Ich hätte es alles als Jungenfantasien abgetan, wenn er nicht weitergesprochen hätte.
    »In den letzten Tagen will ich dich aber darum in mein Land kommen lassen? Du wirst kommen in das Land, das dem Schwert entrissen ist, und zu dem Volk, das aus vielen Völkern gesammelt ist, nämlich auf die Berge Israels, welche lange Zeit wüst gewesen sind; und nun ist es herausgeführt aus den Völkern. Und sie alle wohnen sicher? Alle? Die alle ohne Mauern dasitzen und haben weder Riegel noch Tore?«
    Seine Stimme zitterte.
    »Oh, Ben ...« Ich drückte seine Hände. Satzfetzen aus Naomis Brief aus Israel dem Brief, den ich in dem Klavierhocker gefunden hatte, den ich so oft gelesen hatte - schössen mir durch den Kopf.
Unser Hort der Sicherheit... ödes Land... wohin unser Volk aus allen Ländern, in denen wir im Exil waren, kommt... ein Land ohne Stacheldraht.
Doch Mr. Ali hatte mir gesagt, dass es heute dort Mauern gab, und Kontrollpunkte, und Stacheldraht.
    »Und will regnen lassen Platzregen mit Hagel, Feuer und Schwefel.« Ben hatte die Augen immer noch geschlossen. Dann sah er zu mir auf. »Lass Jesus in dein Herz, Mum. Bitte? Bevor es zu spät ist?«
    »Okay, Ben. Okay.«
    Er war bleich und zitterte. »Aber du glaubst nicht daran, oder?« Er schüttelte den kahlen Schädel, der inzwischen mit feinen dunklen Stoppeln überzogen war, eine Geste, die Enttäuschung oder Verzweiflung ausdrücken konnte.
    »Naja ...«
    »Du sagst es nur mir zuliebe, oder?« Seine Augen waren feucht, voller Tränen. »Was hat es für einen Sinn? Was hat es für einen Sinn, erlöst zu werden, wenn alle ... wenn alle, die du wirklich liebst, verdammt sind?«
    Im Hintergrund lief immer noch der Fernseher, und ich drückte auf die Fernbedienung, um ihn abzustellen, den schrecklichen Strom des Irrsinns abzustellen, der sich in unsere kleine Welt am Kamin wälzte.
    »Komm her, du.« Ich zog ihn neben mich aufs Sofa, nahm ihn in die Arme und drückte ihn an mich. »Das ist doch nur Gerede und Wichtigtuerei. Es ist halb so schlimm.«
    Ich sagte es mit einer Zuversicht, die ich nicht spürte, und setzte für Ben eine tapfere Miene auf, obwohl ein Teil von mir Angst hatte. Wie weit meine Vernunft das Geschwafel der Propheten auch von sich wies, irgendwo in meinem Gehirn war eine versteckte dunkle Höhle, wo die Monster schliefen, wo die Ängste und Alpträume meiner Kindheit angekettet waren, und sie besaßen immer noch genug Macht, das Grauen in mir zu wecken. Wir saßen zusammen da, hielten uns an den Händen und lauschten der Stille, die sich auf das Zimmer legte. Draußen regnete es wieder, ein sanftes Plätschern, kein Wolkenbruch. Ich konnte hören, dass Bens Atem langsamer wurde. Seine Hände waren eiskalt.
     
    Plötzlich hörten wir, wie draußen ein Wagen vorfuhr, Reifen flüsterten im Regen, ein Dieselmotor tuckerte im Leerlauf, Schritte auf dem Fußweg, ein Klopfen an der Tür. Ben und ich starrten einander an. Das Klopfen wurde lauter, und dann meldete sich eine Männerstimme - eine fremde Stimme: »Jemand zu Hause?«
    Ich stand auf und öffnete die Tür. Ich kannte den

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