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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Stimmchen an:
    »Die heil 'gen drei Kön 'ge aus dem Morgenland,
    Sie trugen in jedem Städtchen:
    > Wo geht der Weg nach Bethlehem,
    ihr lieben Buben und Mädchen?<«
    Mein Vater wartete geduldig, bis sie fertig gesungen hatten. Am Ende der zweiten Strophe verstummten sie. Wahrscheinlich kannten sie den Text nicht weiter. Mein Vater fischte ein paar Münzen aus der Hosentasche. Dann, als sie sich gerade schüchtern bedankten, fing er zu singen an:
    » Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht...«
    Seine Stimme war tief und laut. Keir und ich schlichen uns davon und versteckten uns hinter dem Sofa. Die Kinder standen mit offenen Mündern da. Als er an die Stelle mit dem Blut und dem Geierfraß kam, drehten sie sich um und rannten davon, ohne sich umzublicken, bis sie das Ende der Straße erreichten.
    »Warum tust du so was, Dennis?«, schimpfte meine Mutter.
    »Das sollten sie ihnen in der Schule beibringen«, erklärte mein Vater gut gelaunt. »Wahre Geschichte, keine Märchen.«
    Als wir nach den Weihnachtsferien wieder in die Schule kamen, passten mich die Sänger ab.
    »Dein Vater spinnt«, riefen sie.
    »Tut er nicht.« Solidarisch stellte ich mich hinter ihn. »Es war nur, weil ihr so schlecht gesungen habt.«
    Jetzt sah ich, wie Papa zusammenzuckte, als er sich anders hinsetzte, und auch mich durchfuhr ein stechender Schmerz. Lieber Papa - er hatte nie Angst gehabt, ins kalte Wasser zu springen, er hatte immer getan, was er für richtig hielt, ungeachtet der Konsequenzen. Traurig dachte ich an Rip, Stella und Ben, die in Holtham Weihnachten ohne mich feierten. Das Essen war dort garantiert besser, die Geschenke größer, die Dekoration schlicht und geschmackvoll. Dort gab es keine Nikolaushausschuhe oder Rentiergeweihe, keinen Streit über Politik, keine Highland-Tischsets oder Plastikweihnachtsbäume mit blinkenden Lichtern. Stella aalte sich jetzt wahrscheinlich im Whirlpool und flirtete mit ihrem Großvater. Ben würde mit irgendwelchem Hightech-Schnickschnack heimkommen und ihn in seinem Zimmer verstecken, um mich nicht traurig zu machen.
    »Mach dir nichts draus, Schätzchen«, sagte Mama, als könnte sie meine Gedanken lesen. »An Weihnachten ist es nirgends schöner als daheim.«
    Wir stießen an, Mama mit dem Rest des süßen Country-Manor-Weins, Papa und ich mit dunklem Ale. Das Geheimnis der verschwundenen Brotsoße wurde gelüftet, als mein Vater sie anstelle der Brandysoße über den Plumpudding goss.
     
    Später lag ich lange in meinem alten Bett wach und lauschte auf die Stimmen im Nebenzimmer. Mama hatte mir einen dicken Roman von Danielle Steel hingelegt,
    aber ich kam nicht richtig rein, weil meine Gedanken in die Vergangenheit wanderten, zu der Reise, die ich fort von meinem Elternhaus gemacht hatte.
    Es waren Bücher, die mein Leben veränderten - die mich aus den nach Kohle riechenden Reihenhäusern von Kippax an die Universität brachten und hinaus in die große Welt. Als mich der Berufsberater in der Schule fragte, was ich einmal machen wollte, antwortete ich, ich wollte Schriftstellerin werden. »Schreiben ist ein schönes Hobby«, seufzte er wie jemand, der wusste, wovon er sprach. »Aber du brauchst auch einen richtigen Job.«
    Ich machte einen Abschluss in Englisch in Exeter und einen Aufbaustudiengang für Journalismus am London College of Printing. In meiner Familie war ich die Erste, die studierte - heute klingt es wie ein Klischee, doch es war kein Klischee bei uns. Nach einem Praktikum bei der
Dulwich Post
kehrte ich nach Yorkshire zurück, um näher an zu Hause zu sein, und bekam eine Stelle als Nachwuchsreporterin beim
Telegraph and Argus
in Bradford. Dann hatte ich Glück und wurde bei der
Evening Post
in Leeds eingestellt. Und irgendwo auf dem Weg, ganz allmählich, passierte es, dass ich nicht mehr wie jemand aus Yorkshire redete und nicht mehr wie jemand aus Kippax dachte. Heute hörte man höchstens noch bei bestimmten Wörtern eine leichte Flachheit in den Vokalen; und Gavin Connolly zu heiraten war nicht mehr der Gipfel meiner Ambitionen. Meine Eltern nahmen es mir nicht übel. Meine Mutter sammelte alle Zeitungsartikel, unter denen mein Name stand, und holte die Mappe heraus, sobald sich der geringste Vorwand bot. Sie waren stolz auf mich, meine Eltern.
    Auch sie hatten einen langen Weg zurückgelegt. Mein Vater war nach dem Krieg Bergmann geworden, und wenn er ein oder zwei Ale intus hatte, wurde er sentimental und begann von der Nachkriegszeit zu

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