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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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unwillkürlich schauderte ich. Alles in dieser anderen Welt schien trügerisch, ein Alptraum, in dem alltägliche Dinge wie Streifencodes durch das Prisma der Unvernunft gesehen plötzlich eine finstere Krümmung annahmen, und Krieg, Krankheit, Terrorismus, globale Erwärmung - die Geißeln unserer Zeit - mit Jubel als Zeichen der Wiederkunft begrüßt wurden. Ein Mann, der sich Jeremia nannte -seine Webseite zeigte ihn mit ordentlich rasiertem Ziegenbärtchen und einer karierten Schottenmütze ähnlich der von Mrs. Shapiro -, erklärte, dass sich das Gleichnis des Feigenbaums -
»wenn jetzt seine Zweige saftig werden und Blätter gewinnen, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist« -
auf die Veränderungen der Jahreszeiten durch die Erderwärmung bezog, ein eindeutiges Zeichen der kurz bevorstehenden Entrückung. Dreht die Heizung und die Klimaanlagen auf! Rollt weiter, Benzinschlucker! Fliegt, Flugzeuge! Verbraucht, Verbraucher! Wenn sich die Erde erwärmt und die Feigenbäume blühen, werden die Glücklichen, die Auserwählten genommen und hinauf in den Himmel gehoben! Sein selbstgefälliges Lächeln sagte alles.
    Wie kam es, dass ich von all dem nichts wusste? Ich dachte an den Religionsunterricht in der Grundschule in Kippax, Mrs. Rowbottom in ihren malvenfarbenen Knötchenpullovern und der Rosenbrosche aus Porzellan; der Geruch von zu vielen Kindern in einem Raum; Lionheart, der Schulhase, der in seinem Käfig schnarchte; die Vor-Thatcher-Schulmilch in den kleinen Flaschen, die vor der Tür wartete. Wir hatten etwas über Vergebung und Gnade gelernt. Wir hatten etwas über Weizen und Unkraut gelernt, und über den verlorenen Sohn. Für mein Bild des guten Samariters hatte ich sogar einen Goldstern bekommen. Mama hatte ihn stolz an den Kühlschrank geklebt, obwohl es mein Vater, was Religion anging, mehr mit der Opium-fürs-Volk-Theorie hielt.
    Als wir ein bisschen älter waren, diskutierten wir über Splitter und Balken und lernten die Seligpreisungen und Paulus' Hohelied über
Glaube, Hoffnung und Liebe
auswendig. Alles schien so hehr und voller Güte. Hatte Mrs. Rowbottom von der Endzeit gewusst? Wenn ja, hatte sie sich nichts anmerken lassen.
    Auf Jeremias Webseite war ein Link zum
Gelobten Land
,
der mich zu einer ganzen Seite mit Links zu christlichen und jüdischen Seiten führte, auf denen Gottes Versprechen an die Juden diskutiert wurde. Wann sollte das Versprechen eingelöst werden? In der Zeit Gottes, der prophezeiten Zukunft? Oder jetzt, im heutigen Nahen Osten? War der Wiederaufbau des dritten Tempels in Jerusalem eine Metapher für die spirituelle Wiedergeburt? Oder ging es dabei um Stein und Mörtel? Die Cyber-Argumente tobten. Mir fiel noch etwas ein, das Ben gesagt hatte. Wenn Gottes auserwähltes Volk zurück ins Gelobte Land zieht, wie 1948, ist das der Anfang vom Ende aller Zeiten. Ich erinnerte mich an den Brief im Klavierhocker.
Unser Gelobtes Land.
Das Datum des Briefs war 1950. Als ich ihn das erste Mal gelesen hatte, wirkte er wie eine altertümliche Stimme aus einer anderen Zeit. Doch jetzt waren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine unheimliche Kollision verwickelt.
    Und es waren nicht nur Christen und Juden, die sich über die Wiederkunft den Kopf zerbrachen. Ben hatte etwas von einem letzten Imam gesagt. Google zeigte über eine Million Webseiten an, die die bevorstehende Rückkehr des Imam al-Mahdi prophezeiten. Das Ganze hatte nicht mehr viel mit dem Streifencode auf den Kekspackungen des Prince of Wales zu tun.
    Während ich von einem Link zum nächsten surfte, warf das Licht meines Bildschirms einen unheimlichen Schimmer an Wände und Decke. Langsam begann ich zu verstehen, warum Ben so aufgewühlt war. Verglichen mit der gewaltigen Unvermeidlichkeit dieser Entrückungsmaschine wirkte die Welt unserer kleinen profanen Familie mickrig und unwichtig. Vor dem Fenster wurde aus der Dämmerung Dunkelheit, und Regenschauer klatschten immer noch gegen die Scheiben. Ach ja, der Regen. Ich hatte vergessen, ihn wegen des Regens zu fragen.
     

30 - Die kaputte Regenrinne
    Am Samstag hatte der Regen aufgehört, doch das Pflaster war noch nass, und von den überhängenden Baumästen fielen schwere, weiche Tropfen, als ich zu Fuß zu Canaan House ging, wo ich mit Mr. Ali wegen der Regenrinne verabredet war. Ich wollte ihn nach Lydda fragen; ich wollte etwas über den Islam und den letzten Imam erfahren. Doch als ich am Totley Place um die Ecke bog, stand ein kleiner verbeulter roter

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