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Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Titel: Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Auma Obama
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sehnte ich mich verzweifelt nach der Mutter, die mich in der schwierigen Frage des Augenbrauenzupfens und vielen anderem mehr hätte beraten können.
     
    Schwieriger noch als jene Samstagabende waren für mich die Wochenenden, an denen die Schülerinnen nach Hause fuhren. An jedem zweiten Wochenende durften wir unsere Familien besuchen. Samstagsmorgens wurden wir zu einer bestimmten Uhrzeit von den Eltern oder einem Verwandten abgeholt und mussten am nächsten Tag abends pünktlich wieder zurück im Internat sein. Alle Mädchen schienen sich darauf zu freuen, und es galt als schlimmste Strafe, wenn man nicht heimdurfte. Für mich dagegen war dies keine Strafe, ich war froh, wenn ich in der Schule bleiben konnte.
    Am Wochenende in unserem leeren Haus zu sein, ohne meine Stiefmutter und die kleinen Brüder, war viel schlimmer. Verbrachte ich es dort, war ich meistens allein. Mein Vater arbeitete viel und lang und kam danach nicht sofort nach Hause, sondern verbrachte die Abende mit seinen Freunden. Das war damals nichts Ungewöhnliches. Kenianische Väter beschäftigten sich nur selten mit den Kindern, das war Frauensache. Nur dass es bei uns keine Frau mehr gab. Abongo, der seine Schule als Externer besuchte, kam zwar jeden Tag, hielt sich nach einer kurzen Begrüßung aber die meiste Zeit woanders auf. Beide, Vater wie Bruder, schienen der Stille unseres Hauses so oft wie möglich zu entfliehen. Häufig schlief ich bereits, wenn sie zurückkehrten. Und immer mal wieder kam es dann vor, dass mein heimkehrender Vater mich aus dem Schlaf weckte, um mit mir zu reden.
    Während ich mir, im Wohnzimmer auf dem Sofa sitzend, müde die Augen rieb und so tat, als hörte ich ihm aufmerksam zu, erzählte er mir mitten in der Nacht, was er Großes mit uns vorhabe. Er sprach von seiner Liebe zu uns Kindern, davon, dass er alles tue, was in seiner Macht liege, damit es uns an nichts fehle. In seinen Worten schwangen Kummer und Einsamkeit mit. Manchmal legte er auch einfach nur eine Schallplatte mit klassischer Musik auf und erzählte mir dies und jenes über den jeweiligen Komponisten. Unverhofft lernte ich so in jenen Nächten Bach, Schubert, Brahms und andere Größen der europäischen Klassik kennen.
    Diese nächtlichen Szenen stehen mir noch lebhaft vor Augen. Ich sehe uns zusammen auf der Couch sitzen, mein Vater redet, ich nicke. Kaum gehe ich mit einem Wort auf das ein, was er sagt. Ich war weit weg von ihm. Seine tiefe Traurigkeit verstand ich nicht, und sein Gefühl des Alleinseins erregte kein Mitleid in mir. Damals war ich der festen Meinung, er sei selbst schuld an der Situation, in die er sich und uns gebracht hatte.
     
    Im Grunde war der Versuch meines Vaters, sich mir bei diesen nächtlichen Gesprächen anzunähern, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Mein Schmerz war einfach zu groß, um eine Vertrautheit zuzulassen. Ich blieb distanziert und misstrauisch und hatte das Gefühl, einem Mann gegenüberzusitzen, den ich gar nicht kannte. Nur selten hatte er zuvor aus eigenem Antrieb etwas mit uns unternommen. Als meine Stiefmutter noch bei uns war, plante sie an den Wochenenden immer einen Familienausflug, und mein Vater beugte sich stets ihren Wünschen. Oder wenn nichts mit der Familie vorgesehen war, traf er sich, nachdem er die Zeitung gelesen und das Oxford-Kreuzworträtsel gelöst hatte, mit Freunden. Uns Kindern war es im Grunde ganz recht, dass wir nicht allzu viel mit ihm unternehmen mussten. Wir hatten große Scheu vor ihm und waren froh, wenn er sich nicht in unsere Angelegenheiten einmischte.
    Doch es gab auch Momente, in denen ich meinen Vater um Hilfe bat, zum Beispiel eines Tages, als Abongo mit seinen Freunden Fußball spielte und er sich trotz meines hartnäckigen Flehens und Bettelns weigerte, mich mitmachen zu lassen. Ich holte meinen Vater, der ein Machtwort sprach. Daraufhin gab mein Bruder widerwillig nach und stellte mich ins Tor. Lange blieb ich aber nicht auf meinem Posten. Schon nach kurzer Zeit traf mich ein Ball mit voller Wucht in den Bauch, schnitt mir den Atem ab und trieb mir die Tränen in die Augen. Damit war die Partie für mich vorerst beendet. Ich rannte zu meinem Vater, der sofort aus dem Haus eilte und meinen Bruder tadelte.
    »Du musst besser auf deine Schwester aufpassen«, herrschte er Abongo an und tröstete mich.
    »Deswegen soll sie ja auch nicht mitspielen«, erwiderte mein Bruder wütend, bemühte sich aber tunlichst, meinem Vater gegenüber nicht unhöflich zu

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