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Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Titel: Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Auma Obama
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Möglichkeiten vermittelte man uns das Gefühl, die Welt würde uns zu Füßen liegen. Es gab keinerlei Einschränkungen, und die gemeinhin den Jungen vorbehaltenen Schulfächer galten an der Kenya High School als vollauf geeignet für uns Mädchen. Solange unsere Noten es erlaubten, durften wir zusätzlich zum Pflichtcurriculum alles lernen, was wir wollten. Außer der eigenen Faulheit sollte uns nichts und niemand davon abhalten, das zu werden, was wir einmal werden wollten. Und so war es tatsächlich. Noch heute, über dreißig Jahre nach dieser Zeit, begegne ich immer wieder ehemaligen Absolventinnen der »Boma« – so nannten wir liebevoll unsere Schule (Boma bedeutet in der Massai-Sprache »Rinderkral«) –, die mittlerweile Wissenschaftlerinnen, Ingenieurinnen, Rechtsanwältinnen, Richterinnen, Professorinnen oder Politikerinnen sind. Die meisten der einstigen Schülerinnen gehen ihren Weg mit einem Selbstbewusstsein, das man durchaus auf die Boma-Erziehung zurückführen kann.
    Während in der Woche ein vollgepacktes Unterrichts- und Freizeitprogramm mir die nötige Ablenkung von dem in mir schwelenden Schmerz verschaffte, stiegen an manchen Wochenenden die im Schulalltag im Zaum gehaltenen Gefühle mit Macht an die Oberfläche. Insbesondere dann, wenn wir Mädchen uns mit typisch weiblichen Fragen beschäftigten, Fragen, auf die eine Mutter am besten hätte antworten können. Meistens kamen solche Themen am Samstagabend nach dem Essen auf. Denn diese Abende standen uns zur freien Verfügung. In den Gemeinschaftsräumen der einzelnen Wohnblocks durften wir Platten auflegen und tanzen und uns gegenseitig in unseren jeweiligen Wohnbereichen besuchen.
    In einer Clique von Freundinnen zogen wir meist ausgelassen und laut lachend von einem Wohnblock zum anderen. Am längsten hielten wir uns dort auf, wo Songs gespielt wurden, die wir auswendig kannten und lauthals mitsingen konnten. Mitten in dieser fröhlichen Stimmung packte mich manchmal unversehens eine tiefe Traurigkeit. Meine Freundinnen kamen mir so glücklich und unbekümmert vor, ihre einzige Sorge schien die Wahl des Gemeinschaftsraums mit der besten Tanzmusik zu sein. Ich aber versank mehr und mehr in einem Gefühl von Einsamkeit, das mich schier zu ersticken drohte. An solchen Abenden zog ich mich unbemerkt von der Freundesgruppe zurück, um allein zu sein. Ich schlich mich hinüber zum »Five Acres« (»Fünf Morgen«), einem erhöhten Geländeteil, das die Wohnblocks, in denen jeweils um die hundert Schülerinnen untergebracht waren, von den anderen Gebäuden trennte. Dort saß ich stundenlang im Dunkeln auf einer Bank, von der aus ich zusah, wie all die Mädchen zwischen den verschiedenen Wohnblocks hin und her liefen. Die Bank stand unter einem großen Baum unmittelbar vor dem Wohnblock, in dem ich untergebracht war.
    An diesem vertrauten Ort verbrachte ich damals viele Samstagabende. Manchmal weinte ich nur leise, oft aber rumorte es heftig in mir, und ich starrte wütend vor mich hin. Ich fühlte mich von meinem Vater fallen gelassen und von meiner Stiefmutter betrogen. Von wegen, die Trennung habe nur meinem Vater gegolten! »Wo ist sie denn jetzt?« Zornig stieß ich die Worte in die Dunkelheit hinein. Mein Vater wiederum hatte mir versprochen, alles würde gut werden, nachdem ich ihn zum hundertsten Mal gefragt hatte, wie es denn nun weiterginge. Aber es war ganz und gar nicht alles gut! Warum war ich sonst so unglücklich? Und warum hatte sich meine Stiefmutter überhaupt nicht gemeldet?
    Eines Abends heulte ich mir auf meiner Lieblingsbank fast die Seele aus dem Leib. Ich hatte mit ein paar Freundinnen zusammengesessen, und plaudernd waren wir auf das Problem des Augenbrauenzupfens gestoßen. Sollten wir oder sollten wir nicht? Gehörte es zum Frauwerden dazu, dass man sich die Augenbrauen zupfte? Vorschläge, Überlegungen und Argumente wanderten hin und her, aber wir gelangten zu keiner klaren Antwort. Eigentlich wussten wir damals alle nicht so recht, was Frausein bedeutete. Ich freute mich zwar darauf, fürchtete mich aber zugleich davor, wie sicher viele andere Mädchen auch. Eine der Schulkameradinnen schlug schließlich vor, wir sollten unsere Mütter fragen, was sie zu dem Thema zu sagen hätten. Alle nickten eifrig, und ich nickte mit. Und wusste zugleich, dass ich keine Mutter fragen konnte. Nur mit Mühe hielt ich die Tränen zurück. Wenig später stahl ich mich leise davon und suchte meinen Platz unter dem Baum auf. Und dort

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