Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
ich gegen meinen Vater angekämpft und ihm meine Zuneigung verweigert hatte, im Grunde nur um seine Liebe gerungen hatte, und dass meine eigene Verweigerung liebevoller Empfindungen, meine frühe Suche nach Unabhängigkeit, die Flucht nach Deutschland und sogar das Bestreben, an der Uni gute Noten zu erlangen, einzig dem Wunsch entsprungen waren, ihm zu zeigen, dass ich seiner würdig war.
Jahre später, lange nach dem Tod meines Vaters, erzählte mir ein guter Freund von ihm, er sei sehr stolz auf mich gewesen und habe all seinen Freunden immer wieder von seiner wunderbaren Tochter in Deutschland erzählt.
Irgendwann verließ ich die Telefonzelle und ging zurück in mein Zimmer.
Damals war ich Mitglied einer Tanzgruppe namens Afro-Ballet-Ensemble. Sie umfasste mehrere deutsche sowie ausländische Profi- und Laientänzer. In unseren Choreografien verbanden sich auf eigenwillige Weise Tanzstile wie Afrodance, Modern Dance, klassisches Ballett, Disco und Breakdance. Denn es kam uns darauf an, verschiedene Tanzkulturen miteinander zu verknüpfen, um deren Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten darzustellen und mit den Kontrasten zu spielen.
Die Tanztruppe war international besetzt: Jai, unsere Choreografin, stammte aus Peru, Patrice, José und Felix waren Franzosen mit karibischen Wurzeln, Susanne kam aus Deutschland, Elfie aus Ghana, ich aus Kenia. Hin und wieder stießen auch Tänzer aus anderen Ländern zu uns.
Mit Jai, die eine Zeit lang meine WG -Mitbewohnerin wurde, verband mich darüber hinaus eine enge Freundschaft. Ich schätzte ihren Humor und ihre Fähigkeit, schwierige Situationen leicht und erträglich zu machen.
Als mich die Nachricht vom Tod meines Vaters erreichte, befanden wir uns gerade in einer Phase täglicher Proben, da mehrere Aufführungen anstanden. Nach langen Monaten intensiver Arbeit sollte in dieser Woche die erste Vorstellung stattfinden und eine weitere kurz darauf folgen. Bei den Vorbereitungen auf meine Reise nach Nairobi beschloss ich, erst nach diesen Auftritten zu fliegen.
Nach einer letzten Probe saßen wir alle zusammen.
»Du brauchst nicht mitzutanzen, reise doch sofort ab«, meinte Jai besorgt, als ich der Gruppe erzählt hatte, dass mein Vater gestorben sei, ich aber erst nach der zweiten Aufführung in meine Heimat fliegen würde.
»Ich werde immer noch rechtzeitig ankommen, selbst wenn ich die Auftritte abwarte«, erklärte ich. »An der Situation kann ich sowieso nichts mehr ändern, und zu früh nach Hause zu fliegen, wäre mir auch nicht recht.« Bei diesen letzten Worten verlor ich aber beinahe die Fassung. Der Gedanke daran, jetzt unter den vielen trauernden Verwandten zu sein, die den Tod des wirklich letzten und großzügigsten aller Auserwählten der Obama-Großfamilie beweinten, war grauenvoll.
»Du brauchst auch nicht zu tanzen, Auma. Wirklich!«, meldete sich eine weitere Stimme aus der Gruppe.
»Damit tut ihr mir keinen Gefallen«, protestierte ich. »Gerade jetzt brauche ich es!«
Ich versuchte zu lächeln. Aber alle starrten mich nur besorgt an. Sie wollten mich trösten, wussten aber nicht wie.
»Kommt, Leute, auf! Tanzen wir.«
Ich warf Jai einen dankbaren Blick zu. Sie hatte begriffen, dass ich jetzt vor allem Ablenkung brauchte. Sie ging zum Kassettenrekorder, schaltete ihn ein, und als Musik ertönte, stand ich erleichtert auf. Ich wollte nur noch tanzen. Alles vergessen und tanzen, tanzen, als hinge mein eigenes Überleben davon ab.
An die Einzelheiten meiner Reise zur Beerdigung meines Vaters erinnere ich mich nicht mehr genau. Ich weiß nur noch, dass irgendwann die Tränen, die ich nach dem ersten Schock so erfolgreich unterdrückt hatte, zu strömen begannen und nicht mehr versiegten, bis ich in Kenia war.
Irgendjemand, ich weiß nicht mehr wer, muss mich in Nairobi vom Flughafen abgeholt haben. Dann sehe ich als Nächstes vor mir, wie ich in Nairobis Stadtviertel Upper Hill vor dem kleinen Reihenhaus, in dem mein Vater zum Schluss gewohnt hatte, aus dem Auto stieg und in einen Raum voller Menschen trat. Das ganze Haus war mit Verwandtschaft gefüllt, doch durch meinen Tränenschleier hindurch konnte ich niemanden wirklich erkennen. Seit diesem Moment klafft in meinem Gedächtnis eine große Lücke, die bis zu dem Augenblick reicht, da mein Vater in Alego neben seinem Vater beigesetzt werden sollte.
Dort sehe ich mich wieder am Sarg stehen, und ich erinnere mich, wie ich durch ein kleines Glasfenster am Kopfende des aufgestellten
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