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Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Titel: Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Auma Obama
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ich unfähig, das nötige Mitleid zu empfinden, um ihm in seiner Trauer beizustehen. Es hätte bedeutet, ihn gefühlsmäßig mehr an mich heranzulassen. Doch dazu war ich einfach noch nicht bereit.
    Ich stand auf der Türschwelle zwischen unseren Hotelzimmern und schaute zu meinem Vater hinüber, der auf dem Bett lag und weinte, unfähig, zu ihm zu gehen. Eine dicke, undurchdringliche Wand aus Schmerz und Enttäuschung und wohl auch aus Ehrfurcht und Scheu stand zwischen uns. Ich sträubte mich dagegen, das Leid meines Vaters anzuerkennen. Und was mich verblüffte, war, dass ich in diesem Moment sogar spürte, wie erneut ein alter Unmut in mir aufstieg.
    Als ich ihn dort in seinem Kummer sah, musste ich unweigerlich daran denken, wie oft ich selbst mehr Trost gebraucht hätte. Er war ja nie für mich da gewesen, sagte ich mir jetzt trotzig. Wie oft war er denn zu mir gekommen, um mich zu trösten? Und jetzt sollte ich ihn trösten? Ich war zu stolz und zu sehr um mein eigenes seelisches Gleichgewicht besorgt, um Mitgefühl zu empfinden.
    Im Grunde fürchtete ich zutiefst, bei einem Schritt in seine Richtung von den Schmerzen der letzten Jahre, die ich so erfolgreich unterdrückt hatte, überwältigt zu werden und mit all diesen Gefühlen alleine und schutzlos dazustehen. Und doch litt ich innerlich mit meinem Vater. Er sah so hilflos und traurig aus. Vollkommen erschlagen. Er rief mich zu sich, aber ich blieb reglos im Türrahmen stehen. Ich konnte nicht zu ihm. Heute sage ich mir, dass es für mich als Tochter nur schwer erträglich war, meinen Vater so schwach und verletzt zu erleben, ausgerechnet den Menschen, der stets ein lebenswichtiger Halt hätte sein sollen.
    Meine Befürchtungen beschäftigten mich so sehr, dass ich völlig vergaß, um den Auslöser des ganzen Dramas zu trauern, um Onkel Were, den ich sehr geliebt hatte.
    Die Traurigkeit dieses Abends wird mir immer in Erinnerung bleiben, auch deshalb, weil sie die letzten Stunden beherrschte, die wir miteinander verbrachten. Unsere gemeinsame Reise stand kurz vor ihrem Ende. Bei unserer nächsten Begegnung lag mein Vater tot in einem Sarg.
     
     
     
     
     

15
     
    Eines Abends bekam auch ich fern von zu Hause einen erschütternden Anruf. Ein Jahr nachdem mein Vater das Ableben der »Starken« in der Familie beweint hatte, meldete man mir – fast schicksalhaft – ebenfalls einen tödlichen Autounfall. Es hatte ihn selbst getroffen. Mein Vater lebte nicht mehr.
    Den Anruf erhielt ich von Tante Jane, der Schwester meiner Mutter. Zu ihr hatte ich inzwischen regelmäßigen Kontakt, über sie erfuhr ich stets von den neusten Familienereignissen.
    »Auma, bist du noch dran?«, fragte sie besorgt.
    Ihre Mitteilung hatte mich verstummen lassen. Ich brachte kein Wort heraus und rang nach Luft.
    »Hörst du mich?« Sie sprach jetzt lauter und klang fast ängstlich.
    Ich fing an zu weinen. Der wichtigste Mensch in meinem Leben war tot. Plötzlich begriff ich es, und ein entsetzliches Verlustgefühl überwältigte mich.
    »Ja, ich bin noch dran«, schluchzte ich leise. »Ich komme nach Hause.«
    Ich legte auf und starrte nur noch den Hörer an. Unfähig, mich von der Stelle zu rühren, blieb ich in der kleinen Telefonkabine stehen.
    Wie war es möglich, dass der kurze Satz, der soeben aus diesem kleinen Apparat an mein Ohr gedrungen war, einen so unendlich großen Schmerz in mir auszulösen vermochte? Einen Schmerz, von dem ich nicht einmal geahnt hatte, dass ich ihn zu empfinden fähig war. Warum tut es so weh?. War ich nicht wütend auf meinen Vater gewesen? Hatte ich nicht noch in Rotterdam erlebt, dass ich kaum etwas für ihn empfand? Das alles waren Fragen, auf die ich keine Antworten hatte. Als ich in der kleinen, dunklen Zelle stand und mir lautlos die Tränen übers Gesicht liefen, wusste ich nur eines: Meinen Vater gab es nicht mehr.
    Nach seiner Rückkehr aus den USA vor achtzehn Jahren bedeutete nun sein Tod 1982 zum zweiten Mal eine radikale Veränderung in meinem Leben. Ich hatte das Gefühl, als hätte man mir das wichtigste Organ aus dem Körper gerissen und mir die Luft abgeschnürt. Während ich bis dahin immer nur mit gemischten, meist abwehrenden Gefühlen an meinen Vater gedacht hatte, verspürte ich jetzt ein unbändiges Verlangen, ihn wiederzusehen, mit ihm zu reden und ihm zu sagen, dass ich ihn liebte und seine Leiden, die auch meine waren, verstand.
    Auf entsetzlichste Weise wurde mir augenblicklich klar, dass ich all die Jahre, in denen

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