Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
Alarm geschlagen hatten, wurde die Leiche deines Vaters von Odima, Okech, Zeituni und Nyaoke identifiziert. Am dritten Tag ging dann auch Abongo ins Leichenschauhaus.«
»Was geschah dann?«, fragte ich. Die Stille, die nach Tante Marsats letzten Worten eingetreten war, empfand ich als unerträglich.
»Als später aus reiner Routine polizeiliche Ermittlungen eingeleitet wurden, erfuhren wir, dass ein Nissan von Kenya Airways, in dem Angestellte vom Flughafen nach Hause gebracht werden, an der Unfallstelle vorbeigekommen war. Der Unfall war in Upper Hill passiert, auf der Elgon Road. Die Insassen des Gefährts sahen das Auto deines Vaters. Der Fahrer bremste, blieb aber nicht stehen, weil an der Unfallstelle schon Leute waren. Doch einer der Insassen verständigte die Polizei.«
»Die hat aber offensichtlich nicht sofort reagiert«, bemerkte ich bitter.
Meine Tante zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass der Wagen am nächsten Morgen nicht mehr da war.«
Aus den Arbeitszeiten der Mitarbeiter von Kenya Airways ließ sich schließen, dass der Nissan gegen dreiundzwanzig Uhr an der Unglücksstelle vorbeigefahren war.
»Ich kann dir die Stelle an der Elgon Road genau zeigen, wenn du willst. Außer einem kleinen Baum gab es dort weit und breit nichts, was einen Unfall hätte verursachen können. Man sagte uns, dein Vater sei gegen diesen kleinen Baum gefahren und das Lenkrad hätte beim Aufprall seine Brust eingedrückt.«
»Aber er hatte doch gar keine Verletzungen. Ich habe ihn doch bei der Beerdigung gesehen«, entgegnete ich deprimiert.
»Genau! Dasselbe haben wir uns auch gesagt. Abgesehen von einem kleinen Kratzer auf der Stirn war nichts zu erkennen. Und noch interessanter ist die Tatsache, dass der Unfall praktisch vor der Residenz eines Ministers passiert ist. Fragt sich, was die militärischen Wachposten getan haben, die normalerweise davorstehen …«
Der Sarkasmus in der Stimme meiner sonst so sanftmütigen Tante war nicht zu überhören.
»Irgendetwas stimmt da nicht, Auma«, schloss sie und überließ es mir, diese gewichtigen Worte zu verdauen.
»Wieso habt ihr nichts unternommen, um die Wahrheit herauszufinden?« Wieder stellte ich diese Frage, diesmal vorwurfsvoll.
»Ich habe dir ja gesagt, dass wir alle das Gefühl hatten, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber was konnten wir tun? Laut dem Obduktionsbericht ist dein Vater an inneren Verletzungen gestorben. Man hat den Fall nicht weiter untersucht, sondern ad acta gelegt.« Damals war es schwierig, etwas zu unternehmen. Unter Arap Moi herrschte überall Korruption. Es wäre unmöglich gewesen, etwaige Zeugen dazu zu überreden, vor Gericht in unserem Sinne auszusagen. Alle hatten viel zu viel Angst.
Tatsächlich war damals die politische Lage in Kenia alles andere als angenehm. Moi regierte mit eiserner Hand. Er stand an der Spitze eines Einparteiensystems, und alle wichtigen Regierungsposten waren von Leuten besetzt, die ihm treu ergeben waren. Oppositionelle verschwanden, es kursierten viele Gerüchte von Folter und sogar Todesfällen. Und die Bestechungen hatten ein Ausmaß angenommen, das alles Bisherige weit überstieg.
Kurz vor dem Tod meines Vaters hatte Moi den damaligen Gouverneur der Zentralbank von Kenia entlassen. Meine Tante erzählte mir nun, mein Vater habe ihr gesagt, dass er als Nachfolger für diesen Posten vorgesehen sei, da er der für den Staatshaushalt zuständige führende Ökonom war (er hatte sich auf Ökonometrie spezializiert, was damals nur wenige beherrschten). Doch er starb, bevor er die Stelle antreten konnte. Tante Marsat schien davon überzeugt, dass sein Tod damit zusammenhing.
»Dein Vater war zu bekannt, um wie ein anonymes Unfallopfer von der Straße stillschweigend ins Leichenschauhaus gebracht zu werden. Zumal er seine Papiere bei sich hatte!«
Ich war sprachlos. Lange saßen wir nur da, ohne ein Wort zu reden. Jede von uns war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
»Weißt du eigentlich, dass du dich damals geweigert hast, den Tod deines Vaters zu akzeptieren?«, fragte Tante Marsat, als wir einige Tage später das Gespräch wieder aufnahmen.
»Wieso? Ich musste ihn doch zwangsläufig akzeptieren. Er war nun einmal tot.«
»Natürlich, das weiß ich. Aber du hast dich in dich selbst verkrochen und alles ausgeblendet, was um dich herum geschah.«
»Wie meinst du das?«
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, nicht mehr den Tod meines Vaters zu thematisieren. Unser
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