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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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aber einen weit offenen Weltsinn hatten, da ihnen vor langer, langer Zeit ihr Vaterland auf so unwiederbringliche Weise geraubt worden war, daß sie sich nicht einmal mehr einen Begriff davon machen konnten, deswegen fand man nie einen Patrioten unter ihnen. Ihre lange, schwere, blutige Geschichte hatte sie gelehrt, daß Vaterland und Obrigkeit äußerst fragwürdige, unbeständige Dinge seien. Sie waren vielmehr wahrhaft Streiter für den Geist, und das war auch ihr Fluch. Auf sie fiel überall die Rache der Gegenreformation mit all ihrer unmenschlichen Grausamkeit, und durch die ganze deutsche Geschichte läuft die blutige Rinne ihres Golgathaweges bis zur berühmten Salzburger Ketzeraustreibung des Bischofs Firmian in den Jahren 1730 bis 1732, mit der sich die Aufzeichnungen Kastenjakls ungefähr so befaßt haben:
    »Unseren Urgroßvater mit Namen Peter, verheirateter Handwerksmann mit vier Kindern, und seinen Bruder Andreas, ledig, haben sie selbigerzeit gefaßt im Haus im Untersulzbachischen. Einfach herausgerissen sind sie worden aus der Werkstatt und nackt ausgezogen. Dem einen wie dem andern ist alsdann die rechte Hand abgehackt worden und ins Gesicht geschmissen. Sie sollten nie mehr ein Kreuz machen und nichts mehr ehrenhaft arbeiten können. Alsdann haben die Schergen jedwedem hinten und vorn einen dicken Bündel Stroh auf die Haut gebunden und angezunden. Geschrien haben die Firmianischen: ›So, und jetzt marsch mit euch! Lauft dem Teufel entgegen! Der freut sich schon! Weib und Kinder machen wir schon katholisch, wenn ihr in der Höll’ seid!‹ Und wie keiner hat laufen wollen und sich gewunden hat, haben die Schinder gestochen, bis jeder Reißaus genommen hat. Sind geloffen mit der siedenden Haut, wer weiß wohin …«
    Derartige Berichte sind in jedem historischen Werk aus jener Zeit zu finden. Jeder weiß, daß schließlich der Preußenkönig den aus Salzburg vertriebenen Lutherischen und Reformierten zu Hilfe kam, ihnen Wagen und Reiseschutz schickte und Hunderte dieser Verjagten in Ostpreußen, bei Tilsit und im Litauischen ansiedelte. Diejenigen aber, die dabei mitkamen, waren immerhin angesehene Leute mit einiger geretteter Habschaft, die ihre frühere Wohlhäbigkeit verriet. Die Grafs dagegen scheinen buchstäblich nackt und bar über die bayerischen Gebirgspässe gekommen zu sein, also in ein Land, in welchem ein ebenso engstirniger Katholizismus wie in Salzburg vorherrschend war. Ihre Odyssee muß erst geendet haben mit jenem Adreas Graf, welchen das Kirchenbuch der Pfarrei Münsing als am 30. November 1786 geboren verzeichnet. Er war der Großvater des Maxl und trieb neben seiner Stellmacherei auch Pferdehandel, verheiratete sich mit einer Therese Reiserer, erwarb das Berger Anwesen und starb am 14. Dezember 1841. Von diesem seinem Vater stand in Kastenjakls Aufzeichnungen nichts weiter. Überhaupt war es weniger das Tatsächliche, wenngleich zuweilen schaurig genug, was an dieser schriftlichen Hinterlassenschaft den Leser so erregte, als vielmehr das Rachsüchtige und Giftige der Schlußfolgerungen, die der Kastenjakl zog. In ihnen aber schien das Ungefähre der bitterharten Geschichte der Grafs ganz eingefangen zu sein, und gerade sie klärten den Leser darüber auf, weswegen in diesem Geschlecht aller Glaube erstorben war. Der alte, sonderbare Mann im Aufkirchener Dachstübchen muß sehr schmerzlich über diese Erscheinung nachgedacht haben, ja, es will scheinen, als habe er – wenn man sich genau seiner Worte erinnert – gerade an jenen Stellen, die sich damit befassen, eine ebenso hohe als erschreckende Wahrheit über die Seinigen ausgesprochen. Abgesehen von der sich oft wiederholenden Sentenz, daß das »Denken schon ein Wurm sei, der nichts mehr zu glauben zuläßt und unglücklich macht«, erhellen Abschnitte wie dieser die ganze Bitterkeit einer unausweichlichen Erkenntnis:
    »Ein giftiger Stachel ist in einem jeden geblieben, der dieses Foltern, Schinden und Ausrauben ewige Zeiten durchgemacht hat und noch nachspürt, als wär’s ihm selber leibhaftig geschehen. Hat keiner mehr glauben können an so ein Nebelding, das wo sich heißt Gott, der Herr der Heerscharen, und allfort ruhig zugeschaut hat und den ganzen niederträchtigen Jammer hat geschehen lassen!« Und weiter: »Wir haben nichts vergessen und sind zu guter Letzt in die Verstellung und in alle schleicherische List geschloffen, auf daß uns keiner mehr hat kennen können, wer wir sind. Wir haben spielen müssen

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