Das Leben meiner Mutter (German Edition)
den Herrschaften am Berger See-Ufer. Tagsüber behütete sie die Kinder. Längst war es so gekommen, wie der Maxl und die alte Stellmacherin vorausgesagt hatten: Kathls Liebhaber, der Gendarm Sauer, hatte sich von ihr abgewandt und sich schließlich in eine andere Gegend versetzen lassen. Er ließ nie wieder etwas von sich hören.
Die Kathl war dennoch nicht verbittert geworden und redete nie ein schlechtes Wort über ihn. Die Kindsgeburt hatte ihr übrigens gut angeschlagen. Sie sah trotz ihrer körperlichen Zartheit reif und schön aus, mit Reizen, die keinem Mann entgingen. Gewiß war sie arm und kämpfte mit vielen kleinen Sorgen, aber ihre Heiterkeit hatte sie nicht verlassen. Sie blieb, was sie war, ein empfindsam träumerisches Geschöpf mit einem gewissen gelassenen Humor.
Gelassen und still in sich gekehrt lebte nunmehr auch die alte Stellmacherin im Hause. Sie stopfte Strümpfe oder saß an schönen Tagen mit dem plappernden Zwerg auf der Sonnenbank vor der Tür. Sie hatte sich an die Resl gewöhnt und kam gut mit ihr aus. Es war ihr unbegreiflich, wie der Maxl mit seinem durchaus friedfertigen Weib mitunter so heftig herumstreiten konnte, aber sie schwieg dazu. Sie mischte sich nie in diese Dinge. Sie versuchte immer wieder, dem Zwerg das ›Vaterunser‹ beizubringen, und es war fast drollig, wie giftig sich dieser jedesmal schon nach den ersten vorgesagten Worten aufregen konnte und sich dagegen sträubte. Die alte Stellmacherin gab endlich diese Lektionen auf. Sie war müde und dämmerte dem Absterben entgegen. Manchmal sprach sie davon und meinte zufrieden: »Jetzt hat ja alles Hand und Fuß … Was tu’ ich da noch auf der Welt?«
Sie löschte eines Tages aus wie ein stumpfes, schwachgewordenes Licht, und nachdem man sie in die Erde gesenkt hatte, ließ der Maxl den Grabstein der Familie Graf im Aufkirchener Gottesacker setzen. Er bestand aus einem hohen grauen Sandstein mit einem Kreuz darauf. Eine schwarze Marmorplatte ist in seine Mitte gelassen, darauf sind in goldenen Lettern die Namen und Daten der Verstorbenen eingraviert. Rankender Efeu zieht sich auf beiden Seiten hoch. Noch heute ragt dieser Stein aus der stummen schwarzen Erde des Grabgeviertes …
Die Geschichte macht einen Schlußstrich
Der alte Pfarrer Franz Xaver Aigner, der die Resl und den Maxl getraut hatte, war auch vor einiger Zeit gestorben. Niemand trauerte ihm sonderlich nach. Er war ein farbloser, gleichgültiger Gewohnheitsmensch gewesen, den man nur wegen seines geistlichen Amtes achtete. Er hatte noch die heftigsten Jahre des Bismarckschen Kulturkampfes mitgemacht und war sein Leben lang ein argwöhnischer, verknöcherter Feind des neuen Reiches, der Preußen und des Kanzlers geblieben. Den Wandel, der inzwischen eingetreten war, begriff er nicht mehr. Die Zeit war über den alten Mann hinweggegangen, ohne daß er es merkte. Deswegen meinten einige nicht ganz mit Unrecht, er sei im rechten Augenblick in die Ewigkeit abberufen worden. Der Kampf zwischen dem Kanzler und der Kirche nämlich war schon seit geraumen Jahren ziemlich unauffällig beendigt worden. Er hatte aber doch Spuren hinterlassen, die sich im Allgemeinleben deutlich abzeichneten. Bismarck, der wohl eingesehen haben mochte, daß er in seiner Feindseligkeit gegen den Katholizismus vielfach zu weit gegangen war und sich damit die gefährliche Gegnerschaft breiter Volksmassen geschaffen hatte, schloß diesen Frieden auf seine Weise. Er schob einfach alle Schuld an den krassen antikirchlichen Maßnahmen auf seinen Mitarbeiter, den preußischen Innenminister Falk, und ließ denselben rücksichtslos fallen. Vorsichtig begann er auf Umwegen mit dem Vatikan zu unterhandeln, und der außerordentlich weltkluge, diplomatisch gewiegte Papst Leo XIII. einigte sich erst mit ihm, nachdem er gewichtige Zugeständnisse erhalten hatte. Nach all dem tobenden Lärm, nach seinem sinnlos berserkerischen Auftreten war nun – wenn man es genau besah – eigentlich der Kanzler der Unterlegene. Zwar blieb dem Staat ein gewisses Recht, den geistlichen Unterricht in den Schulen zu kontrollieren, und auch die Ziviltrauung behielt ihre Gültigkeit, gewiß war der Einfluß des Klerus allenthalben etwas zurückgedrängt, aber gerade in den Jahren der Unterdrückung hatte sich der Katholizismus gesammelt und war seither zu einem aktiven Faktor im politischen Leben des neuen Reiches geworden. Die seinerzeit gegründete Zentrumspartei verfügte jetzt über eine
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