Das Leben meiner Mutter (German Edition)
das zivilisierteste Land Europas gewesen … Da kamen die Kreuzfahrer ins Land, und was sie unvollendet ließen, das wurde von der Inquisition aufgegriffen und grausam zu Ende geführt. Sie ließ ein zugrunde gerichtetes, verarmtes Land zurück, dessen Industrie vernichtet und dessen Handel zerstört war. Ein Volk von reinen, natürlichen Gaben war mehr als ein Jahrhundert lang gefoltert, dezimiert, gedemütigt und beraubt worden. Die frühzeitige Zivilisation, welche versprach, der Kultur Europas den Weg zu weisen, war dahin …«
Aber es scheint wahr zu sein, daß der Geist einer reinen großen Idee, nur einmal in der Menschenseele entzündet, nicht mehr ausgelöscht werden kann und fortwirkt von Geschlecht zu Geschlecht. Als gehetzte, geächtete Emigranten kamen die überlebenden südfranzösischen Waldenser in andere Länder und lebten zunächst bettelarm, geduckt, verängstigt und vielleicht sogar als rechtgläubig erscheinende Katholiken in der ungewissen Fremde. Allmählich aber fanden sich die Verstreuten doch wieder zu Brudergemeinden zusammen und wagten mehr und mehr, ihre Ideen kundzutun. Aus welchen Quellen der Kastenjakl die Herkunft der Grafs von den Waldensern geschöpft hat, ist mit Sicherheit nicht zu ergründen. Gewiß hatte er einen starken Hang zu verwegenen Mutmaßungen und Konstruktionen, zweifellos muß er aber auch viel nachgeforscht haben. Auf Grund der geschichtlichen Ergebnisse nämlich sind seine Behauptungen, die freilich nur der Erinnerung nach zitiert werden können, nicht ganz von der Hand zu weisen, die da besagen, daß »wir in der Vorderzeit nach langer Irrfahrt im Pinzgauischen und hernach zwischen den Bächlein Oberund Untersulzbach, gehörig zum Erzbistum Salzburg, seßhaft geworden sind, bis es wieder anders geworden ist«. Es ist erwiesen, daß dort Waldenser lebten.
Indessen allem gibt die Zeit schließlich eine andere Form und ein anderes Gesicht, und gerade hierfür legten die Aufzeichnungen des alten Sonderlings ein aufschlußreiches Zeugnis ab, das sich durch die Geschichte eindeutig beweisen läßt.
Auch die Waldenser wandelten sich von sanften Menschen zu tapferen Kämpfern. Sie waren überall das Element des freudig aufnehmenden Geistes und opferten für ihre Überzeugung standhaft ihr Leben. Viele von ihnen kämpften in den Hussitenkriegen mit. Sie nahmen als die ersten die lutherischen Lehren an, befaßten sich mit den Ideen Calvins und Zwinglis ebenso wie mit denen Thomas Münzers. Durch jahrelange Beschäftigung mit der richtigen Auslegung des göttlichen Wortes dachten sie heftig darüber nach, wie sie dieses auf der Welt verwirklichen könnten. Nicht wenige von den Ihrigen waren Krieger in den Bauernheeren des blutigen Jahres 1525. Sie sahen als übriggebliebene, verstreute Einzelne wehrlos und stumm dem Ausrottungsfeldzug gegen die rebellischen Bauern zu, vergaßen nichts von dieser Schmach und behielten ihren Grimm. Sie konnten das Erbe nie verleugnen, das sie von ihren vertriebenen Vorfahren übernommen hatten. Sie sannen tief über die deutschen Mystiker nach und zerbrachen sich beständig über die Durchführung der sozialen Gleichheit den Kopf. Und wieder nach einer Generation standen die Ihrigen während des Dreißigjährigen Krieges teils als Soldaten, teils als unbekannte Mithelfer und verschwiegene Gleichgesinnte auf seiten der protestantischen Union. Was ihre Brüder als Masse an Triumphen und Niederlagen erlebten, das erlitten sie als Einzelne in vielfach feindseliger Umgebung. Und nichts blieb ihnen erspart, keinen schonte das Geschick. Er sprach ein Wort und verriet sich als Ketzer, er bekannte sich offen und starb in der Folterkammer oder auf dem Scheiterhaufen der Katholischen. Oder aber auch, sie entwischten durch Zufall und List ihren Peinigern. Die ersten ihres Geschlechtes hatten angefangen, über den Glauben nachzudenken, und sie, die Nachkommenden, versuchten noch immer, diesen Glauben mit ihrer Vernunft in Einklang zu bringen. Sie versuchten es nicht nur, sie wollten auch danach leben. Und darum blieben sie durch Jahrhunderte hindurch Menschen, die vertrieben wurden, dauernde Emigranten, Exilierte, Geächtete. Wo immer sie hinkamen, machten sie ein Gewerbe blühend. Durch ihre beharrliche Arbeit und Klugheit kamen sie vielfach zu Wohlstand. Jeden Landstrich machten sie fruchtbar und fühlten sich schnell heimisch auf ihm. Sie hingen an diesem neuen Boden, als seien sie darauf geboren, sie liebten ihre oft wechselnden Heimaten. Da sie
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