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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Aber der Schlesinger wartete. Er ging nie in ein Haus. Der Stall und nichts anderes war sein Berufsfeld.
    »Adjes, Bäck! … Und viel Glück!« rief er zurück, als er sich auf sein leichtgefedertes Wägelchen schwang, und fuhr rasch davon.
    Am anderen Tag brachte die Klostermaier-Zenzl, die das Fleisch von Aufkirchen in die umliegenden Dörfer trug, die Nachricht, daß man den Schlesinger im Holz hinter Aufhausen erstochen aufgefunden habe.
    »Er ist ganz blutig auf der Straß’ gelegen … Zwei oder drei Stich’ hat er … Kein Mensch hätt’ es gemerkt, wenn das Roß nicht mit dem leeren Wägerl zum Heimrath gekommen wär’«, erzählte sie.
    Vater, Mutter und wir Kinder starrten wie entgeistert auf sie.
    »Der arme Mensch! … Und hat doch keinen Feind rundherum gehabt«, murmelte die Zenzl.
    »Und wer ihn erstochen hat, das weiß man nicht?« fragte unser Vater.
    »Vorläufig liegt er bei uns im Spritzenhaus … Jetzt wird von Wolfratshausen die Untersuchungskommission schon da sein«, schloß die Zenzl und legte das Fleisch auf die escherne Tischplatte.
    »Hmhm, jetzt so was! … Hmhm, schauderhaft!« machte unsere Mutter und wandte sich wieder dem Herd zu. Vielleicht fiel ihr der Windel ein, doch sie sagte kein Wort darüber. Sie schien auf einmal unruhig zu werden, als der Vater meinte, ob nicht gar die »christlichen« Viehhändler mit dem Mord etwas zu tun hätten, und ging aus der Kuchl. Der Vater ärgerte sich über ihre abweisende Verschlossenheit, weil er wahrscheinlich gehofft hatte, daß man durch dieses Gespräch sich endlich wieder näher komme. Er schüttelte den Kopf und seufzte verbittert. Im Stall drüben stieß die Mutter auf die Marie, die gerade den Kühen eine neue Einstreu machte. Auch die redete vom Mord und erinnerte daran, daß der Windel vor einiger Zeit so sonderbar nach dem Schlesinger gefragt habe. Im Nu bekam die Mutter angstvoll-erschrockene Augen, schaute geschwind in die Richtung des Windelhauses und wandte sich hastig an die Marie.
    »Ah, dummes Zeug!« raunte sie halblaut, als fürchte sie, von jemand gehört zu werden, »red nicht so vorlaut herum! … Die werden den Lumpen schon finden, der gestochen hat … Uns geht das nichts an!« Sie hatte Angst vor Polizei und Gericht, vor Verwicklungen und Feindschaften, und zudem war der Verdruß im eigenen Haus gerade groß genug.
    Abgesehen von dem Aufsehen, das der Mord weitherum erregte: die kleinen Bauern und Häusler im ganzen Pfarrgau trauerten genau so aufrichtig um den toten Schlesinger wie unser Vater. In diese Trauer aber mischte sich auch eine bange, unsichere Besorgnis, denn die meisten hatten noch Schulden beim Viehhändler und sagten sich: »Jetzt werden wohl die Erben das Geld schnell eintreiben.« Auch den Vater bedrückte dieser Gedanke sehr, denn jetzt, wo das Geschäft nichts einbrachte und das Baugeld knapp war, bedeuteten fünfzig Mark eine riskante Summe.
    Aber merkwürdig – die Polizei forschte, zum Windel kamen einmal zwei Gendarmen und blieben verdächtig lange; in den Nachbarhäusern und bei uns fragten sie herum und erfuhren nichts; es hieß einmal, die »christlichen« Viehhändler seien verhaftet worden – merkwürdig, die Wochen strichen hin, aus dem April wurde der Mai, schon fingen die neuen Mauern bei uns zu wachsen an, indessen von irgendwelchen Schlesingerschen Erben hörte man nichts. Es stellte sich schließlich heraus, daß der Viehhändler Junggeselle gewesen war und nur noch einen Bruder im fernen Amerika gehabt habe, der aber so gut wie verschollen sei. Schlesingers Vermögen fiel einer Judengemeinde zu, aber niemand trieb die Schulden ein. Die Bedrückung wich. Das pietätvolle Andenken an den »Jud Schlesinger« lebte in jedem Haus und festigte sich immer mehr. Der Tote wurde zum Beispiel eines wahrhaft ehrlichen, guten Mannes. Freilich – wie das nun schon einmal zu gehen pflegt, wenn aus einer allgemein bedrohlichen Sache auf einmal ein unverhoffter Vorteil für jeden einzelnen entspringt – ganz im geheimen waren die ehemaligen Schlesingerschen Schuldner mit dem Mord auch wieder ganz zufrieden, aber keiner sagte es jemals. – –
    Es war schon Mitte Mai. Aus den zartgrün beblätterten Bäumen schossen Blüten. An den Rändern der Zäune lugten winzige tiefblaue Veilchen aus dem Boden. In den weiten, saftigen Wiesen schwammen dichte Inseln gelber Schlüsselblumen, durchwirkt von unzähligen weiß-schimmernden Gänseblümchen. Von Tag zu Tag wurde das Vogelgetriller

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