Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Strick gekauft«, gestand unsere Mutter der weinenden jungen Baderin, »er ist mir schon so sonderbar vor’kommen. Ich hab’ doch gewußt, daß keine Kuh bei euch kalbt.« Seither war ihr immer etwas unheimlich, wenn sie einen Kalbstrick verkaufte.
Der Pfarrer Jost hatte die größte Mühe, um dem Erhängten ein kirchliches Begräbnis zu erwirken. Die halbe Pfarrei gab dem toten Bader das letzte Geleit.
»Wir wissen nichts. Unerforschlich bleibt für uns der Weg, den uns Gott, der Herr, befiehlt. Wir müssen ihn gehen bis zum bitteren Ende«, sagte der Jost in seiner Grabpredigt. Unsere Mutter sah weh in das Gesicht des Geistlichen. Dann senkte sie den Kopf …
Wir Kinder wuchsen heran, und die älteren hatten bereits eigene Lebenspläne. Kathls Tochter, die Marie, war in die Stadt gegangen. Sie rückte in die Ferne und wurde bald fremd. Obgleich der Vater eine neue Magd nehmen wollte, wehrte sich unsere Mutter dagegen. Die Marie war immerhin noch gewissermaßen aus der weiteren Familie, fremde Leute brauchten zu lang, um sich »einzuwachsen«. Die Mutter übernahm jetzt auch noch die Stallarbeit.
Nach verschiedenen Dienstplätzen bei Münchner Herrschaften heiratete die Marie einen Zigarrenhändler Johann Roßkopf, der sehr geizig war. Das junge Paar besuchte uns öfter, und Roßkopf lieferte von jetzt ab den Tabak, die Zigarren und Zigaretten für unseren Krämerladen. Die Kathl hatte ihre älteste Tochter nie gemocht, ihr rothaariger Schwiegersohn war ihr erst recht zuwider, weil er stets so städtisch distanziert tat, und wir konnten ihn auch nicht leiden. Dagegen hatten wir Kathls Sohn, den jetzt vierzehnjährigen Lorenz, halbwegs gern. Gern freilich nur deswegen, weil man ihm alles, was man nicht tun mochte, aufhalsen konnte. Er war mit uns aufgewachsen und gehörte gewissermaßen zum Haus wie das Roß und die Kühe. Er hatte ein pickliges, fettglänzendes Gesicht, war gedrungen gebaut und leistete stoisch jede Arbeit, auch wenn sie viel zu schwer für ihn war. Unsere Mutter hing mit einem unausgesprochenen Mitleid an ihm, denn er murrte und jammerte nie, war gutmütig und beschränkt und schien weder Schmerz noch Freude zu kennen. Der Kasper, unser Bäkkergeselle, der die absonderliche Gewohnheit hatte, aus mißverstandenen fremdsprachigen Ausdrücken und einheimischen Dialektwendungen irgendwelche Bezeichnungen zusammenzureimen, gab dem Lorenz eines Tages den seltsamen Namen »Quaschko Vincenz Golo Hehnerfleisch«. Warum, wußte niemand, aber jeder lachte darüber, und wir kürzten diesen Namen ab und hießen den Lorenz von da ab einfach »Quasterl«, was unserem Dialekt mehr entsprach. Es bedeutete ungefähr soviel wie eine Quaste, die haltlos im Leben hin- und herbaumelte, und es versinnbildlichte zugleich Lorenz’ ganzes Wesen.
Wenn Vater oder Mutter die Angehörigen unserer umfänglichen Familie aufzählten, nannten sie nebenher auch den ersten Bäckergesellen, der im Gegensatz zum zweiten, welcher nur für den Sommer angestellt wurde, das ganze Jahr blieb, und meinten: »Ja, und dann gehören noch dazu – die alte Resl und der Quasterl.« –
Wer kennt nicht die Stille und Weite des ländlichen Herbstes! Wenn sich der Himmel nach einer ersten Regenwoche ausgeweint hat, wird er ganz durchsichtig blaß und unendlicher denn je. Aus dem ernsten, stummen Dunkel der Fichtenwälder leuchten die grellgelben, immer leicht bewegten Kronen der weißstämmigen Birken, und das Weinrot der Buchen mischt sich darein. Kein Vogelgesang durchzieht diese sterbende Pracht mehr. Nur das heftige Gezwitscher der Spatzenschwärme und das ferne Krähen der Raben, die auf die abgemähten Getreideäcker niederflattern, ist manchmal zu hören. Auf den Wiesen und Hängen grasen die Kühe des Dorfes gemächlich. Wenn sie den länglichen, dicken Kopf bewegen, klingen ihre Halsglocken dünn auf. Vor der Herde um ein kleines, qualmendes Feuer liegen die hütenden Kinder und braten frisch ausgerissene Kartoffeln. Ein zottelhaariger Hund hockt da. Feucht glänzen die zackigen Lefzen seines aufgerissenen Mauls. Die rote Zunge hängt heraus, und geschwind schnaubt er, indem er seine wachsamen Augen unablässig um die geruhige Herde schweifen läßt. Mitunter bellt er kurz auf, rennt weg und jagt eine weit abgewichene Kuh in die Herde zurück. Nackt, und wie durch ein Vergrößerungsglas gesehen, stehen die weißgetünchten Häuser der Dörfer da. Die Obstgärten haben sich gelichtet. Manchmal ächzt ein schwerbeladenes
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