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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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Lied.
    »Vater? Mutter? … Zur Infanterie!« schrie der Maxl stolz, als er an die Fensterscheiben klopfte. Seine Begleiter und er warfen die Hüte in die Luft und trampelten weiter. Unser Vater ging vor die Ladentür und lächelte zufrieden, als sie auf der Dorfstraße weiterzogen, um in Aufkirchen beim Klostermaier bis zur Bewußtlosigkeit zu saufen. Unsere Mutter machte kein glückliches Gesicht und murmelte: »So, zu der Infanterie muß er? … Jetzt ist er wieder zwei Jahr’ weg . . Ich weiß nicht – so lang, das ist doch auch nichts.«
    »Ah, das hat jeder von uns müssen!« meinte der Vater, in den Laden zurückgehend. Der Lärm der Burschen entfernte sich.
    »Jaja, aber anno 70 beim Krieg, da hat kein Mensch einen solchen Spektakel gemacht … Ganz anders ist’s damals gewesen«, fuhr unsere Mutter fort, »vielleicht müssen die auch –«
    »Ah! Jetzt gibt’s keinen Krieg nicht mehr!« fiel ihr der Vater ins Wort und setzte dazu: »Der alte Bismarck hat schon gewußt, was er macht, wie er gesagt hat, wir brauchen bloß ein starkes Militär, dann haben wir ewig Frieden … Der Kaiser macht’s ihm bloß nach.«
    Unsere Mutter begriff nicht und schwieg. Wahrscheinlich kam ihr immer wieder der Fortgang der Männer anno 70 in den Sinn, und sicher sagte sie sich, wenn jeder ordentlich arbeitet, wär’ doch sowieso Friede, zu was denn dann das Militär?
    Sie war bedrückt, als der Maxl, der noch immer ziemlich besoffen war, Abschied nahm. Der Vater drückte ihm fest die Hand und gab ihm fünfzig Mark mit. Der Maxl lächelte bierbenommen und dankte kaum. Uns Geschwister musterte er noch flüchtig und stieß heiser heraus: »Behüt Gott! Und schickt mir nur recht viele Freßpackln! Das braucht ein Soldat!« Wieder verzog er sein biergedunsenes Gesicht, aber in seinen Augen war doch eine Unruhe. Wir waren froh, als er weg war. Er kam zum achten Infanterieregiment in die Festung Metz. Er schickte stets nur sehr bunte, patriotische Ansichtskarten und manchmal einen ungemein fehlerhaft geschriebenen Brief, in dem er seine verschiedenen Wünsche mitteilte. –
    Unsere Mutter beurteilte die Wetterlage nach ihrem »Kindsfuß«. Solange der Schmerz gleichmäßig blieb, gab es keine Änderung. Erst wenn er weher tat und zu brennen anfing, kamen schlechtere Tage.
    Der Winter und die Kälte ließen diesmal lange auf sich warten. Noch im November gab es frische, klare Tage. Besorgt wie alle Bauern meinte die Mutter: »Da haben wir wieder bis weit nach Ostern Schnee, und auf dem Feld leidet alles.« Aber ihr Fuß zeigte nichts an.
    Es waren auffallend bleiche Mondnächte. Bevor sie zu Bett ging, trug unsere Mutter stets das kalte Nachtessen in die Backstube und stellte zwei Flaschen Bier dazu. Sie musterte, ob alles in Ordnung sei, hob den Deckel des Backtroges und machte ihn wieder zu. Schnell zog sie mit dem Finger ein Kreuz auf den Trogdeckel. Dann wandte sie sich zum Gehen.
    Einmal schrak sie zusammen. Von irgendwoher kam ein leise kratzendes Geräusch. Sie sah hastig durch die Fensterscheiben, und es wurde ihr im Nu eiskalt. Im Mondlicht stand das hagere, eingefallene Gesicht des Dorfschusters Andreas Lang. Sie brachte eine Weile kein Wort heraus, gab sich plötzlich einen energischen Ruck, ging ganz nahe ans Fenster und klopfte auf die Scheiben: »Ja, ja, Anderl!? … Ja, was ist’s denn mit dir?!!«
    Sie sah, der Mann war im Hemd und barfuß. Er schien auf einmal aus einer Erstarrung hochzufahren, gab einige Laute von sich und fiel steif um. Unsere Mutter riß schnell das Fenster auf. Da aber stand der Andreas schon wieder auf und sagte hastig und halblaut: »Um Gott’s willen, Bäkkin – sag ja nichts! Ich bin ja mondsüchtig! Ich weiß selber nicht, wie ich hergekommen bin!« Er schlotterte, war totenblaß und drückte seine dünnen Arme mit den großen Händen auf das grobleinene, lange Hemd, als schäme er sich. »Sag um Gott’s willen keinem Menschen was, Bäckin! Ich schäm’ mich ja so, aber ich bin doch krank. Bei dem Mond, da treibt’s mich rum … Ich kann nichts dafür!« Er lief eilends davon. Er war ein Kriegskamerad unseres Vaters von anno 70 und 71.
    Unsere Mutter schloß das Fenster und starrte benommen vor sich hin. Der mondsüchtige Schuster war für sie ein unheilvolles Zeichen. Bedrückt ging sie in den Stall hinüber. Die trächtige Kuh, die eigentlich schon vor vier Tagen gekalbt haben sollte, lag schwer schnaubend da. Wie ein zu stark aufgepumpter Luftballon blähte sich ihr

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