Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Augen fielen ihr zu. Da schreckte sie auf. Gell schrie die Windlin auf der Straße, schrie und schrie: »Helfts Leut’, helfts! Es ist was passiert! Helfts!« Beim Bader und beim Brandl wurden die Fenster hell. Die Stimme unseres Gesellen konnte man vernehmen. Die Mutter stand endlich auf und schaute, ohne Licht zu machen, zum Fenster hinaus und sah einen Haufen Leute, die ins Windelhaus liefen.
»Er hat ihn erschlagen … Jetzt ist er davon!« schrie die Windlin wieder so grell. Hastig bekreuzigte sich unsere Mutter. Sie ging nicht hinunter. Sie wollte nichts sehen, obgleich wir Kinder aufgewacht waren und an ihre Türe pochten: »Mutter? Mutter!! Vater!! … Der Windel ist umgebracht worden!«
Sie kam nur vor die Kammertüre, sagte, der Vater sei in Leoni, und wir sollten uns um Gottes willen nicht einmischen. Wir aber liefen trotzdem auf die Straße. Da standen die ganzen Italiener im Mondlicht. Die Nachbarn drängten sich in die Windelstube. Die Windlin heulte. Wirr redeten alle durcheinander. Jemand fuhr mit dem Fahrrad weg, und nach ungefähr einer Stunde kamen Starnberger Gendarmen, schlossen die Windelstube ab, schickten die aufgeregten Leute nach Hause und nahmen die sich heftig gebärdende Windlin mit. Das Dorf war aufgeschreckt. Noch lange standen dunkle Gruppen im Mondlicht und redeten. Ein Fragen und Mutmaßen ging um, und jeder argwöhnte etwas anderes, denn die Verhaftung der Windlin verstand niemand. Nur die Italiener waren schlafen gegangen.
Am anderen Tag kam die Gerichtskommission. Ein Polizeikommissar kam in unsere Kuchl. Mutter erbleichte. Er sah sie scharf an und fing eine genaue Vernehmung an. Er fragte und fragte hartnäckig. Unsere Mutter zögerte mit jedem Wort, und erst als der Kommissar drohte: »Ich mach’ Sie darauf aufmerksam, Frau Graf, Sie müssen bei der Gerichtsverhandlung einen Eid leisten«, da erzählte sie alles, was sie gesehen hatte. Immer hilfloser und verstörter wurde sie dabei. Der Vater, der anfänglich nur staunte, rief laut über den Tisch: »Herrgott, Resl, dir passiert doch nichts dabei! Es muß sich doch ’rausstellen, wer schuld ist!« Sie aber hatte Angst, schreckliche Angst. Die paar tröstenden Worte des Kommissars nützten gar nichts.
»Mein Gott! Mein Gott!« seufzte sie, als er fortgegangen war. »Mir sind ja die Windels immer unheimlich gewesen! … Die sind ja wie die Zigeuner! … Wenn ich da zum Gericht muß und sag’ alles, die Windlin bringt sicher ein Unglück über uns.« Der Vater wurde wütend über ihren Aberglauben und schimpfte. Sie aber brachte die Unruhe nicht los. Erst als sie nach der Verhandlung, zu welcher sie als Hauptzeuge geladen worden war, mit dem Vater von München heimkam, schien sie ein wenig erleichtert.
Bei der Verhandlung hatte sich herausgestellt, daß die Windlin die beiden Männer mit klarer Überlegung aufeinandergehetzt hatte. Sie bekam ein Jahr Gefängnis, während der Viehhändler, der sie grimmig beschuldigt hatte, mit knapper Not dem Todesurteil entging. Auf lebenslänglich mußte er ins Zuchthaus.
»Und wer den Schlesinger erstochen hat – sonderbar, das ist nicht rausgekommen! Sonderbar!« sagte der Vater nachdenklich und setzte argwöhnisch dazu: »Wer weiß, ob’s nicht der Windel gewesen ist … Jetzt hat er’s auch büßen müssen.«
»Mein Gott, red doch nichts! Sag doch so was nicht, sonst muß ich nochmal aufs Gericht! Da kommt doch nie was Gutes ’raus!« flehte unsere Mutter, und sie schaute dabei auf die Maria. Die verstand und schwieg.
Zunächst wurde die Gemeinde beauftragt, das verfemte Windelhaus zu verwalten. Der Schmalzer-Hans als Gemeindediener, dem es einmal ein Daheim gewesen war, bekam die Schlüssel. Er war furchtlos genug und bezog ein kleines, verwahrlostes Kämmerchen darin; denn von der kärglichen königlichen Pension konnte er kaum den Kornschnaps bezahlen, den er täglich bei uns trank. Noch immer aber schliefen die Italiener in der Heutenne. Eines Tages wurden das Windelsche Mobiliar, die zwei Kühe und Gerätschaften öffentlich versteigert. Der Schmalzer-Hans kam billig zu einem Tisch, einigen Stühlen und einem Bett, mehr brauchte er nicht. Trotz allen Widerstrebens unserer Mutter steigerte der Vater zwei Matratzen ein. Davon war eine schief gepolstert, so daß der darauf Schlafende stets aus dem Bett rutschte. Immer wenn sich aber einer darüber beklagte, meinte unsere Mutter, »so was Pfenniggutes« gäbe es nicht so schnell wieder, und über diesen Umweg kam sie
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