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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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die Beter. Die Moni fing heftig zu weinen an, daß alle auf sie schauten. Unsere Mutter stand im Betstuhl, sah mit trübem Blick geradeaus, und ihre verschränkten, zerarbeiteten Finger zuckten ganz leicht. Ihre ausgetrockneten, dünnen Lippen bewegten sich leise. Sie stand da, traurig und geduldig. Einmal schaute sie schwer atmend in die Höhe, gleichsam als wolle sie sich ein wenig recken. Und ihr Gesicht sagte ungefähr: »Herr, wie du willst.« Da sie so humpelte, wurde ihr das Gehen immer schwerer. Ich gab ihr meinen stützenden Arm und merkte, wie dankbar sie war. Wir gingen langsam auf dem Hügelkamm-Weg dahin, wo sie so oft mit der Leni gegangen war. Ich mußte unwillkürlich an sie denken, und eine Rührung flog mich an.
    Von hier aus sah man über die hängenden Felder, hinunter nach Oberberg. Friedlich lag das sommerlich umgrünte Dorf da. Lieblich schimmerte tiefer der blaue See. Oft und oft mußte Mutter stehenbleiben. »Hmhm, gar nichts mehr bin ich, hmhm«, sagte sie verschnaufend. Ihr Blick lief über die Abhänge. »Wie sauber alles abgemäht ist! … Jetzt, wo so wenig Leut’ daheim sind, kann man die Mähmaschinen gut brauchen …« Sie dachte ein wenig nach und schüttelte ihren alten Kopf: »Hmhm, ich kann’s gar nicht verstehn, wie das sein kann! Nicht leicht in einem Jahr sind Weizen und Korn so gut und schön gestanden, und doch gibt’s nichts! … Muß denn jetzt der Krieg sein?«
    »Er muß nicht! Keiner will ihn, aber das ist ja das Sonderbare – keiner macht was dagegen«, sagte ich. Doch das schien sie nicht zu begreifen.
    »Wie’s wohl dem Maurus gehn wird? … Und dem Eugen und dem Lenz in Amerika?« kam aus ihrem Nachdenken, und wieder schüttelte sie den Kopf: »Hm, wenn das so weitergeht, da seh’ ich keinen mehr.«
    Wir kamen an der Anna-Kapelle vor unserem Holz vorbei.
    »Da schau, die Schatzlin hat die Kapelln neu streichen lassen … Jaja, der Valentin ist ihr gefallen, und der Pauli ist im Westen«, redete sie weiter, und es konnte ungefähr bedeuten: »So ist’s nun schon, was kann man dagegen machen. Es läßt sich nur auf den Herrgott hoffen, vielleicht hat der ein Einsehen.« Auf Gedeih und Verderb war der Mensch verstrickt ins irdische Dasein, was blieb weiter als der, der über uns allen steht!
    Als wir das Dorf erreicht hatten, wandte sie mir auf einmal ihr faltiges Gesicht zu und fragte schmerzhaft: »Und du mußt auch wieder ins Feld?«
    »Jaja«, nickte ich.
    »Mein Gott, ist dir das was!« schloß sie bedrängt. –
    Obgleich der Major einen neuen Mann gefordert hatte, schickte man mich wieder. Als ich unverhofft und unerwünscht wieder in dem kleinen Grenzflecken Marggrabowa auftauchte, war er verblüfft und ungehalten. Auch der Unteroffizier unseres Stabes wußte keine rechte Beschäftigung für mich. Ich wurde endlich wieder mit der Versorgung unserer Bagage-Pferde und der Offiziersgäule beauftragt und hauste in einem kleinen, ramponierten Häuschen weitab von unserer Stabsvilla. Nur zum Essen kam ich dorthin.
    Es war Winter geworden und schneidend kalt. Das Wasser im Kübel, das ich vom Brunnen in den Stall schleppte, bekam in den paar Minuten eine ganz dünne Eisschicht. Die Armeen an der Front rückten unaufhaltsam vor, immer tiefer nach Polen hinein. Wir zogen dahinter her, nisteten uns in den zerstörten eroberten Städten ein, bekamen jedesmal sogenanntes Kontributionsgeld und versoffen es, sobald irgendeine Kneipe, deren Besitzer geblieben war, auftauchte. Mit den paar scheuen Juden, die hin und wieder zum Vorschein kamen, trieben wir Handel oder raubten die verlassenen Häuser aus. Jeder nahm mit, was ihm gefiel, Offiziere wie Mannschaften. Kaum aber saßen wir wieder, ging’s auch schon wieder weiter. Unser langer Bauzug schnaubte durch die trostlosen, verlassenen, unendlichen polnischen Schneeflächen. Nur selten ragten abgebröckelte, viereckige Ziegelkamine aus den Ruinen der niedergelegten Dörfer. Wie dunkle Flecke lugten Teile von zerfallenen Möbeln, demolierten, zurückgelassenen Geräten oder erstarrte Pferdekadaver aus dem Schnee. Dann wieder zogen sich, gleich wirren Spinnwebhäuten, Stacheldrahtverhaue hin, an denen Fetzen von Menschenkörpern hingen. In den langen Schützengräben standen noch aufrecht die gefrorenen, überschneiten russischen Soldaten. Ihre verrosteten Gewehre lagen hin und wieder noch auf der Grabenkante.
    Als wir in Kowno über die Njemenbrücke kamen, lagen auf einem Platz grölende Menschenknäuel mit

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