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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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verbissen und verweigerte das Essen. Ich hungerte zehn Tage und brach zusammen, wurde in ein zurückliegendes Kriegslazarett gebracht und kam von dort in die Heimat. Mit Verwundeten aus allen Fronten lag ich eines Tages in einem brandenburgischen Spital und fing wieder mein krachendes Lachen an. »Idiot« lautete die ärztliche Diagnose für mich, doch dahinter war immerhin ein Fragezeichen. Als solcher wurde ich in die nahegelegene Irrenanstalt gebracht und sprach dort fünf Monate keinen Ton mehr. Die Antwort auf jede Frage schrieb ich stets auf einen Zettel. Die Ärzte rätselten um mich herum und glaubten vielleicht, ich sei wirklich stumm geworden. Ich wurde in eine bayerische Irrenanstalt überführt. Da besuchten mich Mutter und Theres. Sie erschraken, als ich nur stotternd lachte und all das, was ich sagen wollte, aufschrieb. Erschüttert sah mich Mutter an. Dicke Tränen rannen über ihre eingefallenen Wangen.
    »Jaja, mein Gott! Ja um Gottes willen, Oskar?« fragte sie ohnmächtig, »Oskar, das auch noch! Oskar, bist du denn nicht mehr recht im Hirn?« Ich glotzte sie an und, um mich nicht zu verraten, stieß ich ein paar viehisch klingende Lachlaute aus mir heraus.
    »Der Krieg! Der Scheißkrieg! … So was, hm, so was!« weinte meine Mutter zerstoßen. Theres hatte ängstliche Augen. Sie fuhren heim und erzählten im Dorf, ich sei schwachsinnig geworden und komme mein Leben lang nicht mehr aus dem Irrenhaus. In ihren einsamen Nächten grämte sich meine Mutter tränenlos und betete, bis ihr die Augen zufielen. Sie ließ Messe um Messe lesen. Mit ihrer ganzen geduldigen Kraft hing sie unverändert an mir. Nun schien auch dieser helle Fleck aus ihrem Leben weggewischt zu sein. –
    Als die ersten regnerischen Septembertage begannen, wurde ich aus dem Militärdienst entlassen. Ich hatte über den Krieg gesiegt, doch er war noch nicht zu Ende. Während meiner Abgeschlossenheit war nichts von den Geschehnissen zu mir gedrungen. Nun bedrängte es mich gleichsam von allen Seiten. In Rußland war unter Kerenski die Märzrevolution ausgebrochen. Den Zaren hatten sie abgesetzt und mit der ganzen Familie verhaftet. Verstimmt durch den nunmehr unbeschränkt durchgeführten deutschen U-Boot-Krieg war Amerika auf seiten Englands und Frankreichs in den Krieg getreten. Immer deutlicher zeigte sich, daß die Berliner Reichskanzlei nur noch eine ausführende, untergeordnete Agentur der Militärs war. Die deutsche »Oberste Heeresleitung« hatten Hindenburg und Ludendorff übernommen. Der eine unterschrieb jedes Dekret, das man ihm vorlegte, und der andere diktierte.
    Soldaten und immer wieder Soldaten forderte Ludendorff für seine Schlachten. Der letzte Mann, der halbwüchsige Junge, Kranke und sogar halbe Krüppel mußten an die Front.
    Die streng zensurierten Berichte von den Kriegsschauplätzen wurden immer wortkarger. Durch die Straßen der Städte zogen graue Züge abgemagerter Frauen und schrien nach Brot. Sie wollten vor die Regierungsgebäude oder Rathäuser. Die Polizei hieb sie auseinander. Sie sammelten sich immer wieder. »Brot und Friede!« stand jetzt auf ihren rasch angefertigten Transparenten, die sie mit sich trugen.
    Auch im Reichstag und in der Presse wurden die ersten Stimmen für Frieden laut. –
    Mutter und Schwestern waren irritiert, als ich nun doch und so unerwartet auch noch heimkam. Mit verschwiegener Angst, furchtsam fast empfingen sie mich.
    »Ich jedenfalls bin frei! Frei!« sagte ich. Eigentlich konnte ich es selber noch nicht ganz fassen. Mit behutsamer Verzagtheit musterte mich Mutter manchmal unvermerkt. Sicher dachte sie sich: »Jetzt haben sie ihn heimgelassen, damit sie nicht mehr für ihn aufkommen müssen. Jetzt haben ihn wir, und wer weiß, ob er nicht auf einmal wieder närrisch wird.« Die Moni betrachtete mich ungefähr wie ein wildes, reißendes Tier, und auch die Dorfleute mieden mich, so gut es ging. Ein Irrer gilt stets als gefährlich. Eine ganze, lange Weile bangten alle, ich könnte in meiner Unzurechnungsfähigkeit plötzlich etwas Schreckliches anstellen. Erst als ich wieder jedem gewohnt war, erzählte ich der Mutter alles. Sie wurde nicht im geringsten bestürzt und hörte zu, als erzählte ich etwas ganz Selbstverständliches.
    Sie mußte sogar hin und wieder leicht lachen und schüttelte dabei den Kopf: »Hmhm, hmhmhm.«
    »Warum hast du mir denn das nicht gesagt im Irrenhaus?« meinte sie endlich, »von mir hätt’s doch nie einer erfahren.« Verständnisinnig

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