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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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schäumenden Eimern. Sie hatten sich der übriggebliebenen Kellereien einer bombardierten Brauerei bemächtigt, und – alles Grauen und Elend vergessend – soffen sie nun schon tagelang sinnlos weiter. In Wilna knieten abgerissene Weiber und bärtige Männer in langer Reihe vor einer dunklen Kathedrale und küßten immerzu den schmutzigen Boden. Daneben, in lauten Kneipen, boten Mütter oder betrunkene Väter ihre Töchter dem Meistbietenden an, und oft waren sie zufrieden mit einem Laib Brot, einer Kanne voll rotem Viehzucker oder einigen Pfund Salz. Als wir nordostwärts Dünaburg zufuhren, stand eine Mutter mit ihren drei kaum erwachsenen Töchtern im hohen Schnee. Alle vier schrien flehentlich und hatten ihre Röcke bis zum Bauch hinauf gehoben.
    Wir froren. Ich lag bei den Pferden im Viehwagen und rührte mich nicht mehr. Jede Bewegung schmerzte derart, als hätte ich lauter Nadeln im Körper. »Kaputtgehn«, war mein einziger Gedanke. Der Zug hielt endlich in dunkler Nacht, und der beflissene Unteroffizier kam mit der Taschenlaterne: »Graf, ausladen! Wir sind da! Rakischki heißt das Nest. Zieh die Pferde auf die Rampe!«
    »Ich kann und ich will nicht! Hau ab, sonst passiert was!« knirschte ich reglos aus dem Dunkel. Er begann zu kommandieren und drohte. Ich riß mich mit aller Kraft in die Höhe. Jäh wie ein sengendes Feuer durchfuhr mich der Schmerz. Ich kannte mich kaum mehr vor Wut und Jammer, riß mein Bajonett aus der Scheide und wollte ihm brüllend nach. Er lief angstgepeitscht den Zug entlang und ich hinter ihm her, bis ich stolpernd in den Schnee fiel. Er verschwand im Waggon. Ich ging wieder zurück zu meinen Pferden und legte mich von neuem ins Stroh. Die Kameraden kamen und redeten auf mich ein, halfen mir, zogen die Pferde auf die Rampe, schirrten sie an.
    »Ich mach’ nicht mehr mit! Für mich ist der Krieg aus!« weinte ich grimmig. Sie setzten mich wie eine steifgefrorene Puppe auf den Wagen, einer lenkte die Pferde, wir holperten in die schneeige Finsternis, und als wir in dem Dörfchen vor einem niedrigen Haus anhielten, waren die drei Offizierspferde, die hinten an den Wagen gebunden waren, nicht mehr da. Schrecken ergriff meine Kameraden. Da ich mich nicht mehr rührte, schirrten sie die zwei Wagenpferde rasch aus, führten sie in ein kleineres Nebenhaus und begaben sich auf die Suche. Ich ließ mich einfach im stockfinsteren Raum auf die Erde fallen und schlief erstarrt ein. Erst um das Morgendämmern kamen die Kameraden zurück und hatten die Pferde gefunden. Sie weckten mich. Ich knirschte sie giftig an. Die Wintersonne fiel durchs zerschlagene Fenster. Fröstelnd schlug ich die Augen auf, biß die Zähne aufeinander und rieb unausgesetzt mit meinen Händen an meinem Körper. Mühsam richtete ich mich auf. Drüben in der Stube standen unangehängt, mit frostgesträubten Haaren und hungrig wiehernd die Pferde. Eins lag aufgebläht am Boden und war verendet. Der Leutnant kam kurz darauf und schrie mich an. Er befahl mir, dem Kadaver die Haut abzuziehen. Ich beteuerte, kein Metzger zu sein. Er schrie noch mehr und tappte nach Wiederholung seines Befehls davon. Ich warf das tote Pferd mit Hilfe von zwei gefangenen Russen in eine Grube und schüttete sie zu. »Wo ist die Haut?« fragte der nach zwei Stunden zurückkommende Leutnant. »Hier ruht das Pferd«, sagte ich frech und deutete auf den Erdhügel. Er fing kreischend zu bellen an und gab mir den Befehl, in zwei weiteren Stunden feldmarschmäßig in der Kanzlei zu erscheinen. Als ich vor ihm stand, eröffnete er mir, daß ich mich sofort zur preußischen Eisenbahnbaukompanie zu begeben hätte, um dort Dienst zu tun. Stumpf nahm ich stramme Haltung an und verweigerte kaltblütig den Befehl. Der Major kam vom Nebenraum hereingestürzt. Er und die beiden Leutnants schrien auf mich ein: »Kriegsgericht! Ab! Marsch!« Noch immer plärrten sie, als ich zur Türe hinaustappte.
    »Sofort aburteilen! Füsilieren!« hörte ich die krächzende Stimme des Majors. Gleich darauf kam der Leutnant mit zwei fremden Soldaten, die auf ihre Gewehre das Bajonett aufgepflanzt hatten. Er las mir ein langes Dekret vor. Ich hörte kaum hin und verstand nur wieder etwas von kriegsgerichtlicher Aburteilung.
    »Weg mit ihm! Ab! … Bei Fluchtversuch wenden Sie Gewalt an!« befahl er kurz und ging. Die zwei Soldaten nahmen mich in ihre Mitte und führten mich ins Arrestlokal.
    »Wenn schon krepiert werden muß, dann nur durch mich selber!« dachte ich

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