Das Leben meiner Mutter (German Edition)
zu den Alliierten übergegangen. Portugal und Rumänien traten ebenfalls auf die Seite der Entente. Die deutsche Marineleitung dehnte den U-Boot-Krieg mehr und mehr aus. England begann mit der Verschärfung der Blockade unserer Handelshäfen. An allen Fronten wurde erbittert gekämpft.
Die gelben Telegramm-Anschläge meldeten fortgesetzt Siege, doch kein Mensch blieb mehr vor ihnen stehen. Die Leute hatten andere Sorgen. Fast jede Frau arbeitete in einem Kriegsbetrieb, die Männer standen im Feld, und die Kinder blieben sich selbst überlassen. Die Lebensmittel waren streng rationiert. Auch für jedes Kleidungsstück, für Schuhe, Holz, Kohle, Petroleum und Spiritus brauchte man Bezugsscheine. Ein wilder Schleichhandel mit all dem kam auf. Die Reichen, die jeden Preis bezahlen konnten, litten nicht. Die Armen siechten langsam dahin.
Ich suchte das Atelier Georgs auf. Eine fremde Malerin wohnte darin und erzählte, er sei irgendwo zum Garnisonsdienst eingezogen worden. Ich fuhr heim.
»Jetzt ist’s schon fast wieder wie seinerzeit, als der Vater selig die Bäckerei aufgemacht hat«, meinte Mutter, »in jedem Haus und sogar bei den Herrschaften backen sie selber. Brotausfahren brauchen wir nicht mehr. Kuchen und Semmeln gibt’s schon lang nicht mehr, und für das Schwarzbrot kriegen wir oft nicht Mehl genug … Jetzt kann der Lehrbub, der Ottl, die Arbeit leicht machen. Aber auch der wird bald fort müssen. Er ist erst siebzehn Jahr’ alt … Nachher muß halt ich wieder backen … Hmhm, wo das noch hinführen soll!«
Die verzwergte »alte Resl« lachte mich breit an. Ihre zahnlosen Kiefern malmten. Glotzend sahen mich ihre Froschaugen an. »Oka! … Maxl nimma kimmt«, plapperte sie.
In einem Lehnstuhl vor dem Haus saß die lungenkranke Emma in der Sonne und gab mir ihre dünne, kalte, etwas feuchte Hand. Ihre schönen dunklen Augen hatten einen matten Glanz. Ihr durchsichtiges Gesicht war sehr blaß, aber auf den eingefallenen Wangen schimmerte es unnatürlich rot. Verträumt sagte sie mit ihrer sanften Stimme: »Ich hab’ jetzt soviel Zeit. Alle verzärteln mich so … Den ganzen Tag kann ich schwärmen. Ich les’ jetzt oft, was sie im Reichstag sagen. Der Bethmann Hollweg muß ein feiner Mann sein. Er hat neulich in einer Rede gesagt: ›Deutschland, dein ärmster Sohn ist auch dein getreuester!‹ Ist das nicht schön? So ein Dichter hat es geschrieben, ich weiß seinen Namen nicht … Du willst doch auch ein Dichter werden, Oskar, hm?« Sie umstrich mich gleichsam mit ihren zärtlich melancholischen Blicken. »Seltsam, bei dir kann ich mir das gar nicht vorstellen, bei dir kommt’s mir immer vor, als tät’st du an nichts wirklich hängen …« Sie hielt kurz inne, dachte nach und setzte schnell dazu: »Ja, an der Mutter hängst du, das mag sein … und vielleicht hängst du auch ein bißl an mir … Aber weißt du, ich mein’ immer, so ein Dichter, der muß an etwas Großem hängen …«
»Vielleicht kommt’s bloß drauf an, was man so ›groß‹ heißt … Unsere Mutter ist mir jedenfalls lieber als das ganze schöne Daherreden von diesem ›Großen‹«, sagte ich. Sie schaute mir wieder in die Augen, war noch immer im Nachdenken und lächelte dünn: »Wer weiß, vielleicht hast du schon recht! Ich schwärm’ bloß immer so gern …« Sie schwieg ein wenig und fing nüchterner zu erzählen an: »Der Maurus ist in der Etappe in den Vogesen, da ist’s gar nicht gefährlich. Er ist Koch und hat viel Zeit. Er zeichnet jetzt immer, aber auf seinen Bildern sieht man nie was Landschaftliches … Auch nichts, wie’s da draußen an der Front eigentlich ausschaut … Er zeichnet immer bloß die Gesichter von seinen Kameraden.«
»Wahrscheinlich interessieren ihn nur die Menschen«, meinte ich. – So geruhig redete ich oft mit ihr. Sie hatte das gern. Ihre Stimme tat wohl. Sie schien, grade weil sie so krank war, über vieles innerlich hinausgewachsen zu sein. –
Auf den Feldern arbeiteten nur noch alte Leute und Kinder. Im Dorf war es sehr still. Unser Grauschimmel stand zwar noch im Stall, aber sonst waren vor den Fuhrwerken statt der Pferde meist langsam dahintrottende Ochsen. In der Kirche wurde sonntags stets für die Gefallenen gebetet. Wenn der Pfarrer die Namen vorlas, kamen immer wieder neue hinzu.
»Unteroffizier Max Graf, Bäckermeister von Berg«, hallte es monoton aus dieser Aufzählung.
»Der Herr gib ihm die ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihm«, antworteten
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