Das Leben meiner Mutter (German Edition)
ihre Transparente »Brot und Frieden« vorantragend, zum Rathaus oder ins Regierungsviertel zogen.
Meine innere Erregung stieg.
Warum eigentlich? Glaubte ich wirklich an eine Revolution?
Ich wußte nur dies: Seitdem mich bei Kriegsausbruch jene Intellektuellen, denen ich völlig vertraut hatte, durch ihr Freiwilligmelden so tief enttäuscht hatten, verachtete ich die Menschen und zweifelte an allem. Geblieben waren nur Verbitterung, Mißtrauen und Unsicherheit.
Ich traf einen Arbeiter aus dem ehemaligen Mühsamkreis. Er erzählte mir, daß Mühsam in einem Internierungslager in der Nähe von Rosenheim sei und Schreibverbot hätte. Dann aber berichtete er von einem Lokal in der Schillerstraße, in welchem jeden Donnerstag Kriegsgegner und Sozialisten illegal zusammenkämen. In der darauffolgenden Woche ging ich dorthin und traf meinen alten Freund Georg wieder. Er hatte sich mit vielen Listen vom Kriegsdienst befreit. Er arbeitete irgendwo als Konditor und malte wieder.
Frauen, Arbeiter und einige Intellektuelle saßen in dem kleinen, rauchigen Nebenzimmer. Etliche standen am Fenster und spähten ab und zu vorsichtig auf die dunkle Straße.
Kurt Eisner, ein Schriftsteller und linker Sozialist, der gleich vielen seiner Genossen mit der alten Sozialdemokratie gebrochen hatte, hielt eine beißende Rede. Er sah aus wie ein grauhaariger Christus, der etwas zu klein geraten war. Der scharfe Kneifer auf seiner Nase zitterte bedrohlich, wenn er sich erregte. Er wußte unbekannte Dinge über die Vorgänge in der Reichskanzlei, an der Front und in der Obersten Heeresleitung. Ludendorff hatte es rasch verstanden, alles seinem Willen untertan zu machen. Er herrschte mit blinder Strenge und berief sich stets auf seine »Verantwortung dem Feldheer gegenüber« oder auf die »Stimmung des deutschen Volkes«. Er entrechtete nicht nur die Reichsregierung, sondern auch den ehemals so draufgängerischen Kaiser. Er schrieb ihm jede Handlung vor und zwang ihn, auch genau dieselbe Meinung wie die Oberste Heeresleitung zu haben.
Der allmächtige General bestimmte, daß das eroberte Polen zu einem Königreich unter deutschem Protektorat erhoben werden müsse, und entfernte jeden Staatsmann, der sich dagegen widersetzte. Er ging weiter. Er forderte verlängerte Arbeitszeit in den Kriegsbetrieben und verbot gleichzeitig jede Lohnerhöhung. Er wies dabei stets auf die »Helden im Felde« hin, und daß kein Deutscher es besser haben dürfe als die! Die darüber murrten oder revoltieren wollten, wanderten in die Zuchthäuser oder wurden in die gefährlichsten Schützengräben gesteckt. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg hatten bei der zweiten Abstimmung über die Bewilligung der Kriegskredite als einzige Sozialdemokraten dagegen gestimmt und waren gegen den Eroberungskrieg aufgetreten. Seither saßen sie im Zuchthaus. Nun gesellten sich Hunderte neuer Häftlinge dazu.
Die gesetzlichen Einschränkungen waren peinlich genau festgelegt, aber jeder Mensch, der nur halbwegs leben wollte, mußte sie notgedrungen umgehen und wurde dadurch zum Staatsschädling. Davon sprach Kurt Eisner mit ätzender Empörung. »Den breitesten Massen wird die Demoralisation geradezu aufgezwungen!« schrie er, »alles treibt einer Korruption zu, die schließlich der Untergang unseres ganzen Volkes werden wird!« Er zitterte, bekam einen roten Kopf, und seine Schläfenadern schwollen an. Seine wenig klangvolle Stimme überschlug sich. Seine Worte hämmerten gleichsam.
Eines Tages tauchte Erich Mühsam wieder auf in diesem Kreis. Es stand einmal ein junger Mensch mit scharf ausgeprägtem, fast schön zu nennendem, gelblich bleichem Gesicht vor uns. Tiefdunkle, fanatische Augen und volles, schwarzes, lockig zurückfließendes Haar hatte er. Er machte große Gesten, wenn er sprach, und er sprach mit dichterischem Feuer. In den mörderischen Schlachten an der Westfront verbluteten Hunderttausende. Der junge Mann rief mit seiner lauten, volltönenden Stimme: »Brüder und Schwestern! Mütter! Laßt das sinnlose Opfern eurer Söhne und Väter nicht mehr zu! Macht euch nicht mitschuldig am größten Massenmord! Verlangt energisch das Ende des Blutvergießens!« Die Frauen waren hingerissen. Manche weinten. Wir alle klatschten begeistert.
»Der?« klärte mich mein Freund Georg auf, »das ist ein Heidelberger Student, der als Kriegsfreiwilliger hinaus ist … Aber jetzt ist er bekehrt. Er heißt Ernst Toller.« Nach dem Vortrag lernte ich Toller kennen. Er arbeitete in
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