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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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der Sozialistischen Studentenbewegung illegal gegen den Krieg und versuchte angesehene Professoren oder andere berühmte Persönlichkeiten dafür zu gewinnen. Ich bewunderte seine heftige Energie. Da er jedoch Kriegsfreiwilliger gewesen war, gewann ich kein Vertrauen zu ihm. Er blieb mir irgendwie fremd.
    »Geh mir zu! Er ist ein Intellektueller! … Die haben uns schon einmal verraten!« sagte ich zu Georg. Der aber verteidigte Toller und nannte mich einen Spießbürger.
    »Bloß der Spießbürger ändert sich nie!« schloß er. –
    Ich warf meine Arbeit hin und trieb nun alles, was ein aufgeschreckter junger Mensch in jenen Zeiten treiben konnte. Ich nährte mich von einem schwunghaften Schleichhandel mit Lebensmitteln, verbreitete verbotene Flugschriften der Eisnerleute und machte Propaganda für einen allgemeinen Munitionsarbeiterstreik, der im Januar einsetzen und dem Krieg ein Ende machen sollte. Kurz vor seinem Ausbruch wurde ich mit Georg verhaftet, ebenso Eisner und seine nächsten Mitarbeiter. Bei den Verhören aber gab ich derartig dummdreiste, unbefangene Antworten, daß der Kriminalkommissar nicht viel mit mir anfangen konnte. Mitten in den gefährlichsten Fragen sagte ich unvermittelt: »Ich bin Katholik, Herr Kommissar.« Ich hatte nämlich einen Deserteur bei mir aufgenommen und versteckt.
    »Wieso, das gehört doch nicht hierher!« fauchte mich der Kommissar an.
    »Ja, wissen Sie, bei uns im Katechismus steht: ›Du sollst die Obdachlosen aufnehmen‹ und ›Wenn dich wer bittet, so gib‹ … Danach hab’ ich mich gehalten«, antwortete ich. Er ließ mich abführen, bald darauf wurde ich entlassen. Die Polizei aber überwachte uns.
    Durch die Gegenpropaganda der kaisertreuen Sozialdemokraten war der Munitionsarbeiterstreik zusammengebrochen. Es gab verschärfte Maßnahmen gegen die Arbeiterschaft. Doch jetzt wurden viele von Tag zu Tag waghalsiger. Offen schimpfte jeder gegen Krieg und Ludendorff. Nun gab es in allen Schlupfwinkeln zahllose Deserteure, die einfach die Schützengräben verlassen und sich in die Heimat durchgeschlagen hatten. Niemand verriet sie. Die Geldentwertung setzte allmählich ein. Die Bauern auf den Dörfern widersetzten sich gegen die amtlich vorgeschriebene Abgabepflicht und verkauften ihre Produkte lieber den hoch zahlenden Schleichhändlern, die wie ein unsicherer Schwarm das Land überzogen. Jeder begann auf eigene Faust zu handeln, und ganz nach dem Grundsatz: »Rette sich, wer sich retten kann!« Das Takelwerk des bisher geordneten Allgemeinlebens verhaspelte sich immer mehr.
    Mein Freund Georg wurde mit jedem Tag hochgestimmter. Mit fiebernder Spannung verfolgte er die Zeitungen.
    »Alles bricht krachend zusammen!« rief er pathetisch und lief in seinem schäbigen Atelier auf und ab. »Nietzsche sagt: ›Zerbrecht, o zerbrecht mir, meine Brüder, die alten Tafeln!‹ … Genau wie in Rußland stehn die Massen überall auf gegen die Blutsauger.«
    »Du mit deinen Massen … Schau doch genauer herum … Das Volk will gar keine Revolution, das Volk will bloß Frieden«, sagte ich. Er berichtete mir von neuen Streiks, von den großen Friedensdebatten im Reichstag.
    »Denk dir doch einmal!« rief er, »sogar der kaisertreue Sozialdemokrat Scheidemann verlangt jetzt schon einen Frieden ohne Annexionen! … Siehst du denn die täglichen Hungermärsche nicht? … Der Ludendorff wird bald ausregiert haben … Das Heer will nicht mehr mitmachen!«
    O ja, das stimmte alles. Ich sah die Hungermärsche, ich las von den Streiks, aber Ludendorff saß noch sehr fest im Sattel. Er hatte den Kanzler Bethmann Hollweg abgesetzt und einen neuen, völlig unbekannten, unfähigen Beamten namens Michaelis ernannt. Papst Benedikt X. hatte vor einiger Zeit der gläubigen Menschheit ein Friedensmanifest übermittelt und ließ in den Kirchen dafür beten. Ludendorffs neuer Kanzler mußte nun darauf antworten und hielt eine große Rede im Reichstag. Ja, ganz gewiß, auch Deutschland sei durchaus für den Frieden, aber – so meinte der Kanzler wörtlich – für einen Frieden, wie er ihn auffasse. Das verstimmte sogar die gemäßigten Parlamentarier, die bisher den Ludendorff-Kurs mitgemacht hatten.
    Woodrow Wilson, der Präsident der Vereinigten Staaten, zeichnete mit seinen berühmten »14 Punkten« zum erstenmal das Bild eines allgemeinen Weltfriedens und schlug einen Völkerbund vor. Bulgarien, das mit Deutschland verbündet gewesen war, schloß mit der Entente einen Sonderfrieden.

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