Das Leben meiner Mutter (German Edition)
In Österreich zogen die Soldaten barfuß und nur noch mit dünnen Fußlappen an die gebirgige italienische Front. Die jahrhundertelang unterdrückten Tschechen in diesen Regimentern liefen scharenweise zum Feind über, der für sie ein Freund war. Die Ungarn meuterten. In Wien starben Menschen auf der Straße Hungers, und im bolschewistischen Rußland hatten England und Frankreich einen erbarmungslosen Bürgerkrieg angezettelt.
»Du bist ein ganz und gar unmöglicher Mystiker!« tobte Georg. »Immer quatscht du da was vom ›Volk‹ … Das Volk, das sind die Arbeiter und Soldaten und vielleicht – wenigstens in Rußland, aber nicht bei uns – die Bauern. Die wollen alle das gleiche!«
»Gut, daß du das so deutlich gesagt hast«, diskutierte ich weiter. »Wie ist’s denn wirklich gewesen bei uns? … Ich les’ jetzt immer unsere Geschichte, ich dank’ schön, was da herauskommt! … 1525, da sind die Bauern gegen die Grundherrn aufgestanden, weil sie die Ausbeutung einfach nicht mehr ausgehalten haben – und was ist geschehn? Die Fürsten, Bischöfe und Könige haben sich schnell geeinigt und haben die ganze deutsche Bauernfreiheit ein für allemal auf Jahrhunderte erschlagen. Und der Luther, das war sicher auch so ein Intellektueller! Geh mir bloß zu mit dem! … Zuerst hat er den wilden Mann gemacht und gegen den Papst gekämpft, und jeder hat gemeint, der macht Ernst mit dem, was in der Bibel steht … Zuerst haben die Bauern gemeint, er steht auf ihrer Seite, und derweil hat er sie verraten und verkauft, der Kerl! Lies doch das einmal … Ja, meinetwegen, der Thomas Münzer, der war ein ehrlicher Revolutionär, meinetwegen. Aber der Luther – du siehst’s doch –, der war sozusagen der ›große Deutsche‹, dieser Unteroffiziersschädel, dieser zweideutige Arschkriecher und Verräter! … Geh mir bloß zu! Lies doch seine Schriften gegen die Bauern … Das sind ja die reinsten Gebrauchsanweisungen für die Mörderbanden, die sich die Fürsten und Staaten halten … Und du weißt ja, was geschehen ist. Tausende und Tausende Unschuldiger und Schuldiger haben die Horden der Fürsten zu Tod gemartert, gefoltert, gerädert und gejagt – weil’s der dicke Schuft in Wittenberg empfohlen hat … Seitdem hat der Bauer nie wieder eine Rolle in unserer Politik gespielt, er ist einfach zum stumpfen, geduldigen Volk geworden … Das mein’ ich doch damit, verstehst du mich denn nicht!? …«
Ich hatte einen heißen Kopf. Mein Freund war erstaunt. Bisher hatte er mich noch nie so reden hören, und ich war schon im Fluß. »Und 1848, als unsere biederen, ehrlichen Demokraten ein einiges, wirklich freies Deutschland haben machen wollen, da haben dieselben deutschen Fürsten, die uns jetzt immer von ›vaterländischer Opferbereitschaft‹ was vorfaseln, da haben diese Schufte auch diese harmlose Revolution zusammenhauen und niederkartätschen lassen – und wohlgemerkt von Soldaten, die nichts anderes waren als du und ich! Das Schreckliche ist doch, daß sich eben immer Menschen hergegeben haben zum Soldatenmachen … Da liegt doch der ganze Grund, warum ich nicht an eine Revolution glauben kann bei uns! Seit die 48er Revolution kaputtgeschlagen worden ist, haben die Kaiser und Könige bei uns mit dem Volk machen können, was sie wollten! Der Bismarck ist nicht anders gewesen als der jetzige Kaiser und der Ludendorff … Du wirst immer gleich giftig, wenn ich so skeptisch bin und immer vom Volk rede! … Schau doch mich an! Ich bin halb ein Bauer, halb ein Arbeiter und vielleicht auch ein bißchen ein zerfahrener Intellektueller! Mir hat auch einmal so ein Militärschädel jede Selbständigkeit aus den Knochen geschlagen und aus dem Hirn herausgeprügelt. Das verliert sich nicht so schnell! Du wirst wieder sagen, ich bin ein sentimentaler Scheißkerl, aber das ist mir ganz gleich – das Volk, ich seh’s immer wieder und immer deutlicher, das Volk, das sind die Schwachen, das sind die, die mißtrauisch sind, wenn man ihnen so die Ohren vollredet von Freiheit und Gerechtigkeit – das Volk ist wirklich wie meine Mutter daheim! … Die hat sich das Glauben an die Menschen abgewöhnt, und, naja, da glaubt sie eben bloß mehr an den Herrgott … Ich aber kann überhaupt an nichts mehr glauben, das ist schlimm!«
Mein Freund schaute mich fragend an und schüttelte den Kopf. »Herrgott, Mensch, was in deinem Hirn alles vorgeht! … Das ist ja lauter dummes, wirres Zeug! … Wart ab, wir
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