Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Eisner monatelang im Gefängnis behalten hatte. Jetzt, da er wieder frei war und der überwachenden Polizei gegenüber jede Vorsicht fallen ließ, wirkte er erst recht als ermutigendes Beispiel auf viele. Immer zahlreicher wurden seine Anhänger. Seit dem Kieler Matrosen-Aufstand hatte sich die Lage in ganz Deutschland gründlich verändert. Das verbündete Österreich zerfiel zusehends. Vor zwei Jahren war der alte, starrsinnige Kaiser Franz Joseph gestorben. Sein junger Nachfolger Karl I. versuchte verzweifelt, diesen Zerfall zu verhüten. Durch einen seiner Verwandten, den Prinzen Sixtus von Parma, hatte er der Entente einen Sonderfrieden anbieten lassen. Das war ruchbar geworden und erregte in den Berliner Regierungskreisen und bei der Obersten Heeresleitung größte Unruhe. Aber, kaum richtig bekannt, wurde dieses Ereignis von einer Sturzwelle anderer, weit schrecklicherer Nachrichten überflutet. Unter der neuen, einer alles zermalmenden Dampfwalze ähnlichen, erbarmungslosen Offensive des französischen Generalissimus Foch begannen die Heere Ludendorffs zu wanken. Überall brach die deutsche Front ein. Unaufhaltsam wichen die erschöpften, aufgelösten Armeen zurück. Immer näher und näher rückte der Krieg und flutete ins Hinterland. Über München tauchten die ersten italienischen Bombenflugzeuge auf, und über den rheinischen Städten kreisten französische, amerikanische und englische. Ein lähmendes Grauen erfaßte die Volksmassen. Bis jetzt hatten sie gemurrt, geschimpft und verwünscht, aber außer einem geringen Teil immer noch mehr oder weniger an die Unüberwindlichkeit des deutschen Feldheeres geglaubt. Nun wich diese Illusion jäh der hilflosen Angst und dem Entsetzen, denn auch Ludendorff und seine Generale verloren den Kopf und wandten sich in ihrer Ausweglosigkeit auf einmal an dieses jahrelang niedergehaltene, gehorsame Volk. »Sofortige Aufnahme der Waffenstillstandverhandlungen mit den Feinden!« verlangten sie jetzt! Der alte christlich-konservative Kanzler Hertling mußte weg. Der als Demokrat bekannte Prinz Max von Baden kam an seinen Platz. Überstürzt befahl die Oberste Heeresleitung schleunige Parlamentarisierung und verlangte Wahlen! Sie forderte sozusagen von oben herab auf der Stelle die Demokratisierung, um jede Verantwortung am Zusammenbruch von sich abzuwälzen. Ludendorff trat zurück. Der bei allen Parteien beliebte General Gröner ersetzte ihn und nahm sogleich Verhandlungen mit den staatstreuen Sozialdemokraten auf. Jeder rätselte, riet und versuchte. Die ganze, gewaltige, uhrwerkähnliche deutsche Kriegsmaschine schnurrte auseinander. Das Tägliche verlor die Richtung und wurde unsicher.
»Schluß machen! Schluß!! An den Galgen mit Ludendorff! Nieder mit dem Krieg!« brüllten die dichtgedrängten schwarzen Massen, die jeden Tag die Straßen und Versammlungslokale überfüllten. Ludendorff, der Kaiser und viele Prinzen waren aber schon außer Landes geflüchtet. Irgendwo – so fühlte ungefähr jeder Mensch – führten noch irgendwelche Leute die Regierungsgeschäfte, doch das schien auf einmal ziemlich überflüssig geworden zu sein. Gleich einem aus dem Bett getretenen, haltlosen Strom floß das Volk durch die Städte. Es marschierte unentwegt und wußte nicht, wo aus und wohin.
Es war Herbst 1918. In der Frühe eines klarsonnigen Novembertages wanderten mein Freund Georg und ich mit Tausenden zur Theresienwiese unter das Monument der »Bavaria«, wo die Sozialdemokraten und die Eisner-Anhänger Versammlungen im Freien einberufen hatten. Auf den Straßen war kein Polizist mehr zu sehen. An den Wänden klebten fettgedruckte Erlasse des Kriegsministeriums und der Polizeidirektion, die schärfste Maßnahmen gegen Ausschreitungen androhten. Keck rissen lachende Passanten sie herunter und zerfetzten sie.
»So ist’s richtig!. . . Ganz recht!« zollten Vorübergehende Beifall. Arglos heiter und fast ausgelassen waren die Menschen, als ginge es zu einem riesigen Volksfest.
Wir standen noch gar nicht lange in der Masse der Eisner-Leute, als der hagere Feldsoldat und Sekretär Eisners, Felix Fechenbach, laut vom Abhang herunterschrie: »Genossen und Genossinnen! Reden sind genug gehalten worden! Wer für die Revolution ist, mir nach, uns nach! Vorwärts!« Ein ungeheurer Jubel brach los. Alles rannte den Abhang hinauf. Unsere dichten Scharen füllten die Straßen und marschierten schnellschrittig auf die Kasernen zu. Die meisten ergaben sich ohne Widerstand. Etliche
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