Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Birnbaum warf breite Schatten. Der Himmel war blaßblau und wolkenlos. Beim Schatzl im Stall brüllte eine Kuh, und auf dem Misthaufen gackerten einige Hennen. Dieser Frieden wurde mir auf einmal bewußt. Ich lehnte mich zurück und drückte die Augen zu, um ihn ganz auszukosten und alles Gewirr, das noch in meinem Hirn war, zu vergessen.
»Hm, so still, so schön ist’s bei euch draußen«, sagte ich und reckte mich wohlig.
»Gell! Gell, du sagst es auch, gell!« fiel Mutter ein, und es klang wie: »Und da will sie jetzt weggehen! So weit weg! Und bei uns weiß sie doch immer, sie ist daheim und gehört her!«
Der Maurus kam, brachte eine Torte und süßen Likör und setzte sich zu uns. Er schenkte die Gläser ein, wir prosteten der Anna zu. »Denk manchmal an uns, Nanndl«, sagte der Maurus, »laß dir’s gut gehn!«
»Jaja, viel Glück! Viel Glück!« redete die Mutter dazwischen, stellte das Gläschen hin und zerkaute langsam und appetitlos ein Stück Torte. Die kleine Annamarie war herzugekommen und schaute lachend auf uns. Mutters schwere Hand strich unablässig über ihr blondes Haar.
Am andern Vormittag kamen die drei Buben vom Maxl, die Moni und einige Nachbarsleute, um sich von der Anna zu verabschieden. Jeder brachte ein kleines Geschenk mit wie bei einer Hochzeit. Mutter wischte sich in einem fort die nassen Augen aus und arbeitete zerstreut. Nur hin und wieder wechselte sie mit den Leuten ein paar Worte. Erst als ganz kurz vor unserem Weggehen der Zwerg, die »alte Resl«, dahertappte, vor Anna stehenblieb, mit ihren ausdruckslosen Froschaugen emporsah und aus sich herausplapperte: »Ann’l, weit furt! Nimmer kimmt«, brach unsere Mutter jäh in ein kurzes, haltloses Schluchzen aus und umschloß – was kaum jemals bei ihr vorkam – die Anna mit ihren zitternden Armen. Sie brachte kein Wort heraus, drückte ihr verhärmtes Gesicht auf dasjenige der Anna, und dicke Tränen rannen über ihre Wangen. Auch Anna weinte und sagte immerzu: »Mutter, ich schreib’ schon gleich … Ich geh’ ja zum Eugen! Sei nur still, Mutter!« Theres, Maurus und ich standen da und schwiegen betroffen. Der Zwerg plapperte noch immer. Die kleine Annamarie schrie plötzlich und riß am Rock der Mutter. –
Auf der Fahrt nach Hamburg machten Anna und ich in Berlin zwei Tage Halt. Wir besuchten alte Bekannte von früher. Die ewig bewegte Stadt war ruhig. Jeder ging seinen Geschäften nach. Gerade durch diese Zwischenstationen, glaubte ich, müßte meine Schwester das schnelle Wechseln von Heimat und Fremde leichter hinnehmen. In den Hamburger Auswandererhallen aber, als sie die vielen Menschen aus den Balkanländern sah, die eben entlaust worden waren, bekam sie plötzlich eine große Angst und peinigendes Heimweh. So rauh und schroff kam ihr diese Massenunterkunft vor, daß sie auf der Stelle wieder umkehren und heimfahren wollte.
»Nein! Nein! Da bleib’ ich nicht! Auf keinen Fall! … Nein! Nein, das tu’ ich nicht!« rief sie unausgesetzt und klammerte sich an mich wie ein störrisches, verschrecktes Kind. Endlich, als ich eine private Unterkunft für diese eine Nacht gefunden hatte, beruhigte sie sich. Am anderen Tag brachte ich sie auf das Schiff. Sie lachte wieder ihr gesundes Lachen, aber es war doch irgendeine flackernde Ungewißheit in ihren Augen. Als die Schiffssirene brüllte, als es langsam ans Abfahren ging und der mächtige Rumpf des Ozeandampfers die Wellen aufwirbelte, winkte sie nervös lachend zurück und rief: »Und du sagst der Mutter, es ist alles gut gegangen, gell! Gell, bestimmt!«
Ich blieb eine Woche in Hamburg, suchte Bekannte auf und fuhr nach Berlin zu meinem Verleger, denn ich hatte mir mit den Jahren doch einen bescheidenen Ruf als Schriftsteller errungen. Es fiel mir auf, als ich nach zirka vierzehn Tagen in den Zug stieg, daß die Reisenden wirr, bedrückt und unruhig waren. Ich sah in die Zeitung und begriff.
Wegen saumseliger Erfüllung der Versailler Vertragspflichten hatten die Franzosen das Rhein- und Ruhrgebiet besetzt.
»Deutsche Mark auf dem Nullpunkt – Staatsbankrott – Präsident Ebert beruft reines Beamtenkabinett – Beratung wegen passiven Widerstands gegen die rechtswidrige Besetzung!« sprang in dicken Schlagzeilen in meine Augen.
»Was denn, was denn? Passiver Widerstand! … Quatsch!« rief ein stiernackiger, elegant gekleideter Mann mit vielen Schmissen im roten Trinkergesicht. »Entweder gibt’s Krieg, oder die Juden müssen radikal weg! Nur diese
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