Das Leben und das Schreiben
dieses noch deutlicher hervorzuheben. Das kann größere Umstellungen und Veränderungen nach sich ziehen. Der Vorteil für Sie und den Leser ist eine klarer fokussierte und einheitlichere Geschichte. Das funktioniert fast immer.
Das Buch, an dem ich am längsten arbeitete, ist Das letzte Gefecht (Originaltitel: The Stand ). Es gefällt meinen treuen Lesern offenbar auch am besten (es ist ein wenig deprimierend, wenn alle so einmütig der Meinung sind, dass man sein bestes Werk vor zwanzig Jahren abgeliefert hat, aber da wollen wir jetzt nicht näher darauf eingehen, danke). Ich vollendete die erste Fassung ungefähr sechzehn Monate, nachdem ich mich an die Arbeit gemacht hatte. Das letzte Gefecht brauchte so lange, weil es in der dritten Runde beinahe gestorben wäre und es fast nicht mehr ins Ziel geschafft hätte.
Ich hatte die Idee zu einem breit angelegten Roman mit vielen Handlungsträgern – ein Fantasy-Epos, falls ich das bewältigen konnte. Zu diesem Zweck schrieb ich in wechselnden Perspektiven und stellte in jedem Kapitel des ersten Teils eine neue wichtige Figur vor. So befasst sich das erste Kapitel mit Stuart Redman, einem Fabrikarbeiter aus Texas; das zweite Kapitel handelt zuerst von Fran Goldsmith, einer schwangeren College-Studentin aus Maine, und kehrt dann zu Stu zurück; das dritte Kapitel beschreibt Larry Underwood, einen Rock-’n’-Roll-Sänger aus New York, erzählt dann erst wieder von Fran und dann erneut von Stu Redman.
Ich hatte vor, all diese Figuren, die Guten, die Bösen und die Hässlichen, an zwei Orten zu versammeln: in Boulder und Las Vegas. Ich dachte mir, sie würden am Ende wahrscheinlich gegeneinander Krieg führen. Der erste Teil des Buches berichtet darüber hinaus von einem von Menschen gezüchteten Virus, der Amerika und den Rest der Welt heimsucht. Er vernichtet 99 % der Menschheit und zerstört unsere auf Technologie basierende Kultur.
Ich schuf diesen Roman gegen Ende der sogenannten Energiekrise in den Siebzigerjahren, und es machte mir einen Riesenspaß, mir vorzustellen, wie die Welt im Verlauf eines furchtbaren, verseuchten Sommers vor die Hunde geht (genau genommen dauert es nicht viel länger als einen Monat). Meine Vision war weitreichend, detailliert, umfasste das ganze Land und war atemberaubend (für mich jedenfalls). Selten habe ich mit dem Auge meiner Fantasie klarer gesehen: von den Staus, die die tote Röhre des Lincoln Tunnel in New York verstopfen, bis zu der bösartigen, nazigleichen Wiedergeburt eines Las Vegas unter den wachsamen roten (und oft belustigten) Augen von Randall Flagg. Das hört sich alles furchtbar an, ist es auch, aber in meinen Augen enthielt diese Vision seltsamerweise auch eine Portion Optimismus. Es gäbe keine Energiekrisen, Hungersnöte, Massaker in Uganda mehr, keinen sauren Regen oder Löcher in der Ozonschicht. Finito den säbelrasselnden atomaren Supermächten, und ganz sicherlich gäbe es auch keine Überbevölkerung mehr. Stattdessen erbot sich dem übrig gebliebenen Häufchen Menschheit die Chance, in einer auf Gott vertrauenden Welt einen Neuanfang zu wagen, in der es wieder Wunder, Zauber und Prophezeiungen gab. Mir gefiel die Geschichte. Mir gefielen die Figuren. Und dennoch kam ich an einen Punkt, wo ich nicht mehr weiterschreiben konnte, weil ich nicht wusste, was ich schreiben sollte. Wie der Pilger in dem Epos von John Bunyan war ich an eine Stelle gelangt, an der es nicht mehr weiterging. Ich war nicht der erste Schriftsteller, der diesen grässlichen Ort entdeckte, und werde auch bei Weitem nicht der Letzte sein: Willkommen im Land der Schreibblockade.
Hätte ich nur zwei- oder dreihundert Seiten eines einzeilig beschriebenen Manuskripts gehabt statt der über fünfhundert, hätte ich Das letzte Gefecht wahrscheinlich aufgegeben und mich einem neuen Projekt zugewandt – das hatte ich, weiß Gott, schon öfter getan. Aber in diese fünfhundert Seiten hatte ich zu viel investiert, zu viel Zeit und kreative Energie. Das konnte ich unmöglich aufgeben. Außerdem flüsterte eine leise Stimme in meinem Hinterkopf, das Buch sei wirklich gut, und ich würde es mein Lebtag bereuen, wenn ich es nicht fertigstellte. Anstatt mich also einem neuen Projekt zuzuwenden, fing ich an, lange Spaziergänge zu machen (eine Gewohnheit, die mich zwanzig Jahre später in große Schwierigkeiten bringen sollte). Ich nahm auf diese Spaziergänge immer ein Buch oder eine Zeitschrift mit, las aber selten darin, auch wenn es noch so
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